28. August 2015

Sommergespräch mit Christiane Grabe

Vom Flanieren zum Spazieren

Sommerzeit ist Reisezeit. In der Diakonie RWL gibt es viele Einrichtungen und Angebote, die für Erholung, Spaß und Gemeinschaft in der Ferienzeit sorgen. Neues zu entdecken gibt es dabei nicht nur in der Ferne, sondern auch im eigenen Quartier. Und zwar zu Fuß auf einem Spaziergang. Christiane Grabe, Referentin für Quartiersentwicklung bei der Diakonie RWL, lädt dazu regelmäßig im Rahmen von Workshops ein.

Christiane Grabe Portrait

Christiane Grabe Portrait

Mit einem Spaziergang verbinden die meisten Leute einen kleinen Bummel durch den Park oder die Stadt. Für Sie ist es sehr viel mehr. Warum?

Für mich ist das Spazierengehen nicht nur eine Lieblingsbeschäftigung. Es ist auch eine Wissenschaft, mit der ich mich schon länger beschäftige. In den 1970er Jahren begründete der Soziologe Lucius Burckhardt die sogenannte Promenadologie. Sie begann als Seminar innerhalb des Studienfachs Stadt- und Landschaftsplanung. Damals fing man an, sich kritisch mit dem Urbanismus auseinanderzusetzen. Burckhardt wollte die Menschen mit Spaziergängen durch ihre Stadt dazu bewegen, die oftmals sehr technokratische Bebauung und Überformung der Landschaft nicht einfach hinzunehmen, sondern zu hinterfragen. Warum wird gerade hier gebaut? Wer nutzt diese Straße und wem nutzt sie? Wer wohnt hier und wie wird gewohnt? Das sind nur einige der Fragen, die aufkommen, wenn man nach den Methoden der Spaziergangswissenschaft unterwegs ist.

Ist es für Sie ein großer Unterschied, ob man spazieren geht, flaniert, wandert oder gar läuft?

Es ist ein großer Unterschied, alleine schon vom Tempo her, mit dem ich in der Landschaft unterwegs bin. Je langsamer ich gehe, desto mehr nehme ich auch von meiner Umgebung wahr. Gehen ist eine ganz einfache, unmittelbare Weise, sich die Welt anzueignen. Das trifft auch fürs Flanieren zu, wenn es darum geht, sich wie im Urlaub einfach treiben zu lassen, wie mit einer Schildkröte an der Leine unterwegs zu sein. Doch das Flanieren hatte zumindest früher noch den Zweck, sich zu zeigen, vor den Augen der anderen elegant zu promenieren. Auch das passt zur Spaziergangswissenschaft, die ja vom Wahrnehmen zum Handeln kommen will. Denn wir können einen Raum auch nutzen, mit künstlerischen Interventionen oder auch Performances deutlich zu machen, dass wir ihn verändern möchten.

Wie sieht das dann konkret aus?

Bei einem Spaziergang in Düsseldorf haben Frauen entdeckt, dass eine bestimmte Unterführung in ihrem Quartier für sie alle ein „Angst-Ort“ war, den sie nur sehr ungern betreten haben, aber betreten mussten, um zu den Geschäften in ihrem Viertel zu gelangen. Der erste Schritt war, sich zu überlegen, wie sie diesen Ort selbst so gestalten konnten, dass er ihnen keine Angst mehr machte. Also tranken sie dort gemeinsam Kaffee. Danach organisierten sie Theater- und Musikaufführungen im Tunnel und luden die Nachbarschaft und die Presse ein. Mit dem Ergebnis, dass die Stadt diese dunkle Unterführung neu streichen und mit Lichtern ausstatten ließ.

Welche Reaktionen erleben Sie auf den geführten Spaziergängen? Unterscheiden sich da die Generationen?

Sie unterscheiden sich vor allem im Hinblick darauf, was für sie „Angst-Orte“ sind. Gerade ältere Menschen, die noch den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt haben, fürchten sich vor dunklen Straßen, Tunneln oder verwahrlosten Häusern. Das weckt Erinnerungen an die zerstörten Städte, in denen sie damals lebten, an Flucht und Armut. Es ist aber in der Regel sehr individuell, was Menschen auf unseren Spaziergängen mögen oder stört. Bei Männern erlebe ich es zum Beispiel häufiger, dass ihnen die technokratische Bauweise der 1970er Jahre gefällt oder sie sich durch Strommasten weniger gestört fühlen als Frauen. Darüber dann ins Gespräch zu kommen, ist sehr interessant und bildet die Grundlage für eine neue Wahrnehmung der eigenen Umgebung.

Kunstaktion auf einem Bürgerspaziergang in Grefrath

Kunstaktion auf einem Bürgerspaziergang in Grefrath

Ist es nicht schwierig, Menschen dazu zu bewegen, ihr Viertel zu verändern, wenn sie es so unterschiedlich wahrnehmen?

In der Regel nicht. Der Sinn des Austauschs auf einem Spaziergang ist es ja, überhaupt eine Haltung zur Umgebung, in der wir leben, zu entwickeln. Sehr viele Menschen nehmen einfach hin, wie ihr Viertel gestaltet ist und überlegen gar nicht genau, wie es für sie schöner, bunter oder lebendiger sein könnte. Wenn sie sich darüber austauschen und gemeinsam Ideen dazu entwickeln, erleben sie sich plötzlich als Akteure und übernehmen ein Stück Verantwortung für ihr Quartier statt diese ganz der Stadt, den Politikern und Stadtplanern zu überlassen. Insofern sind die Spaziergangswissenschaften ein kleiner, niederschwelliger Baustein für das große Thema Quartiersentwicklung.

Dieses Wort ist mittlerweile ja in aller Munde. Politiker haben das Quartier als wichtigen Sozialraum wiederentdeckt, in dem professionelle und ehrenamtliche Hilfen verzahnt werden können. Gelingt das denn in der Praxis?

Vieles gelingt, aber ich möchte davor warnen, Quartiersentwicklung als Sparprogramm zu betrachten - nach dem Motto: mit mehr Nachbarschaftshilfe sparen wir professionelle Pflege ein, die Leute verschönern selbst ihre Viertel, die Stadt muss da nichts mehr investieren. Ich beobachte, dass die sogenannte „caring community“ von Politikern gerne in ein marktwirtschaftliches Format gebracht wird, das sich aber nicht trägt. Auch künftig werden wir ambulante wie auch stationäre Pflegeinrichtungen brauchen. Wir können nicht einfach zu Großfamilie, Nachbarschaft und Heimat zurück. Es geht vielmehr darum, vielfältige Modelle des Miteinanderlebens, insbesondere im Alter, zu finden.

Brücke

Brücke

Quartiersentwicklung ist in der Öffentlichkeit sehr stark auf die Großstädte bezogen, die je nach Region boomen. Wie sieht es mit dem Land aus?

Auch da gibt es mittlerweile viele positive Beispiele, wie Quartier sich entwickeln kann. Im niederrheinischen Ort Oedt zum Beispiel, der wie viele Dörfer von Arbeitsplatzverlust, Infrastrukturabbau und Wegzug betroffen war, haben die Bewohner selbst einen Wohnmobilstellplatz gebaut. Dort sollten die Touristen, die auf Rad- und Kanutouren vorbeikamen, Station machen. Das brachte ganz viel ins Rollen. Heute gibt es einen Bouleplatz und wieder einen Laden, Künstler haben sich vernetzt und engagieren sich für die Wiederbelebung. Der Ort ist alles andere als „öd“, sondern lebendig und bunt. Die Einwohner sitzen nicht mehr auf gepackten Koffern, sondern identifizieren sich mit ihrem Ort. Ich kann noch viele solcher Beispiele nennen, was passiert, wenn Menschen sich darüber Gedanken machen, wie sie leben möchten und dann anfangen, ihr Umfeld zu verändern.

Und wie möchten Sie leben?

Ich bin vor fünf Jahren mit meiner Familie in eine kleine Solinger Hofschaft gezogen. Hofschaften sind  wie Dörfer mitten in der Stadt mit einer enger verflochtenen Nachbarschaft und viel Grün. Für mich ist das eine schöne Form des Wohnens, in der ich auch gerne alt werden möchte.

Das Gespräch führte Sabine Damaschke.

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