Selbstvertretung wohnungsloser Menschen
Die Minusgrade im Park hat sich Dirk Dymarski warm getrunken. Wenn es nicht anders ging, schlief er auch in Notunterkünften und hielt den Geruch nach Urin, Schweiß und feuchten Klamotten aus. Er stand an Kältebussen und wärmte sich in Kirchengemeinden auf. Zwölf Jahre lang lebte er auf der Straße oder in Einrichtungen für wohnungslose Menschen in Bochum, Essen und Berlin. Insgesamt fünfmal musste er wegen kleinerer Diebstähle oder Schwarzfahrens ins Gefängnis.
"Ich habe die Straftaten teilweise so begangen, dass ich im Winter in den Knast kam", erzählt der 43-Jährige, der früher als Reiseverkehrskaufmann gearbeitet hat. "Da hatte ich es warm, bekam Essen und musste nicht auf Isomatten in überfüllten Notunterkünften schlafen." Hilfe erhielt Dirk Dymarski von vielen Seiten, aber oft vermisste er einen Kontakt auf Augenhöhe. Das änderte sich erst in seiner bisher letzten Station, der Wohnungslosenhilfe Freistatt der von Bodelschwingschen Stiftungen Bethel. "Hier fühlte ich mich nicht als Klient, sondern als Mensch", sagt er. Und zwar als jemand, dessen Meinung zählt.
Bei der Abeit: Olaf Jerke (von links), Dr. Stefan Schneider und Dirk Dymarski tauschen sich in der Koordinierungsstelle in Freistatt aus.
"Alle wissen, was gut für uns ist"
Als er vor drei Jahren gefragt wurde, ob er nicht auch an den jährlichen Treffen eines 2015 gegründeten bundesweiten Netzwerkes wohnungsloser Menschen teilnehmen möchte, sagte er sofort zu. "Politiker, Sozialarbeiter, Passanten – alle wissen, was gut für uns ist. Wir kommen dabei selten zu Wort. Uns zu vernetzen und gemeinsame Forderungen zu erarbeiten, fand ich prima." Und so begann Dirk Dymarski, mit anderen wohnungslosen Frauen und Männern auf Veranstaltungen, Messen und Kirchentagen aufzutreten und Gespräche mit Politikern zu führen.
Jetzt ist aus diesem Netzwerk ein Verein entstanden, die "Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e.V.". Dirk Dymarski arbeitet im Büro der Koordinierungsstelle in Freistatt. Unterstützt wird die Initiative unter anderem von der "Aktion Mensch", der Diakonie Niedersachsen und den von Bodelschwingschen Stiftungen Bethel.
Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt informierte sich während des Kirchentags am Stand der Diakonie RWL.
Sozialer Wohnungsbau sofort
"Wenn es um die kalte Jahreszeit und die Kältehilfe geht, beschäftigen sich Politik und Öffentlichkeit mit Wohnungslosen, aber ansonsten kommen wir selten vor", meint Koordinator Stefan Schneider. "Das wollen wir ändern." Und so stellt das Netzwerk, dem rund 90 Frauen und Männer angehören, konkrete Forderungen. Dazu zählt die massive Verstärkung von Sofortmaßnahmen für Menschen, die auf der Straße leben – und zwar nicht nur im Winter.
Die Selbstvertretung will eine bessere medizinische Versorgung, menschenwürdige Notunterkünfte und - falls gewünscht - professionelle soziale Unterstützung. Wichtig ist ihr aber vor allem, dass wohnungslose Menschen eine Chance auf bezahlbare eigene Wohnungen haben. "Dafür muss der soziale Wohnungsbau dringend ausgebaut werden", betont Stefan Schneider. "Wir brauchen ein Recht auf Wohnung im Grundgesetz. Sonst wird es immer bei einigen Feigenblatt-Projekten für wohnungslose Menschen bleiben."
Verschärft sich der Wohnungsmarkt, steigen auch die Zahlen der Obdachlosen. Aktuell sind 678.000 Menschen wohnungslos. Foto: Pixabay
Wohnungsnot bewegt
Auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund hatte die Selbstvertretung Gelegenheit, ihre Forderungen nach mehr bezahlbarem Wohnraum gemeinsam mit der Diakonie RWL an einem Stand vorzutragen. "Das Thema hat viele Besucher bewegt", sagt Heike Moerland, Armutsexpertin der Diakonie RWL. "Die Situation und die Anzahl der Wohnungslosen sind ein Seismograph für die Lage am Wohnungsmarkt. Je enger der wird, desto schwieriger ist es für Menschen in schwierigen Lebenslagen, eine Wohnung zu finden oder zu halten."
Gemeinsam mit den Menschen statt für sie Lösungen zu finden, hält die Leiterin des Geschäftsfeldes Berufliche und soziale Integration für sinnvoll und notwendig. "Als Diakonie sollten wir uns immer wieder fragen, wie wir die soziale Arbeit mit Wohnungslosen und von Armut betroffenen Menschen so gestalten können, dass zu jedem Zeitpunkt der professionellen Beziehung die Möglichkeit der Beteiligung von Nutzerinnen und Nutzern geprüft wird." Betroffene dabei zu unterstützen, dass sie ihre Bedürfnisse artikulieren können und einen Ausgleich bei widersprüchlichen Interessen zu finden, gehört für sie ebenfalls dazu.
Machtlos und ausgegrenzt fühlen sich viele wohnungslose Menschen. Uwe Eger von der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen unterhält sich während des Kirchentags mit einer Besucherin.
Machtlos und ausgegrenzt?
Viele wohnungslose Menschen hätten resigniert, beobachtet Stefan Schneider. "Sie erleben sich als machtlos und ausgegrenzt. Man vertreibt sie zunehmend aus Innenstädten und Bahnhöfen. Gewalttaten gegen Obdachlose nehmen zu." Umso wichtiger sei es, dass sich die Mitglieder der Selbstvertretung für- und miteinander engagierten und dabei auch von der Diakonie unterstützt würden.
"Als ich zu den ersten Treffen des Netzwerks gekommen bin, habe ich meine Zähne nicht auseinander bekommen", erzählt Dirk Dymarski. "Das ist heute anders. Ich erlebe viel Wertschätzung und traue mir viel mehr zu."
Text: Sabine Damaschke, Fotos: Damaschke, Bürgener, "Selbstvertretung wohnungsloser Menschen" und Pixabay
Soziale Hilfen
678.000 Menschen in Deutschland ohne eigene Wohnung
Im vergangenen Jahr waren laut Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe rund 678.000 Menschen ohne eine Wohnung. Laut Verband sind mehr als 70 Prozent aller Menschen ohne Wohnung alleinstehend. 30 Prozent leben mit Partnern und in einigen Fällen auch mit Kindern in Notunterkünften oder auf der Straße. Die Beteiligung von Betroffenen und die Förderung der Selbsthilfe rücken zunehmend in den Fokus der sozialen Arbeit. Zusammen mit der Freien Wohlfahrtspflege NRW hat die Diakonie RWL bereits zweimal gemeinsam mit Betroffenen zu Treffen für Menschen mit Armutserfahrung eingeladen. Die Teilnehmenden hatten hier Gelegenheit, sich mit Menschen aus Politik, Verwaltung und Gesellschaft auf Augenhöhe auszutauschen.