Housing First
Die Besonderheit des "Housing First" vorne weg: "Ein Mensch von der Straße bekommt erst einmal ein Dach über dem Kopf. Erst dann wird geschaut, was der Hilfebedarf bei ihm ist", beschreibt Regina Adams, Expertin für Wohnungslosenhilfe beim Diakonischen Werk Dortmund und Lünen. "In der klassischen Wohnungslosenhilfe ist die Annahme von Hilfe eine Voraussetzung für eine Wohnung." Im klassischen Fall wird ein "Hilfeplan" erstellt, der bei einem Kostenträger wie dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) oder Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) eingereicht wird. Das fällt bei "Housing First" zunächst weg: Denn Hilfe ist kein Muss, sondern eine Möglichkeit.
Housing First-Bewohnerinnen und -Bewohner brauchen keine Hilfe anzunehmen, wenn sie nicht wollen. Das gibt Entscheidungsfreiheit.
Selbst entscheiden: Hilfe oder nicht?
Bei der Diakonie Dortmund leben seit etwa einem Jahr in zwei "Housing First"-Wohnungen zwei Menschen, die nicht mehr auf der Straße schlafen müssen. Die Interessenten für diese Wohnungen kommen aus der Wohnungslosenhilfe oder den Übernachtungsstellen für Frauen und Männer.
"Housing First-Nutzer müssen keine Verpflichtungen zu einem Hilfeprozess eingehen. Meiner Meinung nach ist das wirklich gut", betont Adams. "Sie haben damit Entscheidungsfreiheit."
Möchten die Betroffenen Unterstützung annehmen, dann greifen die klassischen Hilfen der Diakonie, um die Existenz zu sichern. "Das heißt, zum Beispiel SGB II-Leistungen (Hartz IV) beim Jobcenter zu beantragen, damit sich der Betroffene etwas essen und Kleidung kaufen und Miete zahlen kann." Bei Fragen der Hauswirtschaft, wie preiswertes Kochen oder Flurputzen, oder der Gesundheit helfen Sozialarbeiter, Krankenpfleger oder Ergotherapeuten, wenn der "Housing First"-Nutzer Hilfe möchte.
Welche Risiken gibt es bei Housing First?
"Man weiß nicht, ob die Bewohnerinnen und Bewohner gut mit den Wohnungen umgehen", erzählt Adams. Zudem verpflichte sich der Träger für 20 Jahre, die Wohnungen nach dem Housing First-Prinzip zu vermieten, um eine spezielle Förderung für diese zu bekommen.
Koordiniert werden die Housing First-Projekte landesweit durch die Initiative "Housing First-Fonds" – ein Gemeinschaftsprojekt von "Der Paritätische NRW" und "fiftyfifty". Kooperationspartner wie die Diakonie Dortmund bekommen 20 Prozent des Ankaufspreises der Immobilien aus dem Fonds gestellt. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben einen Mietvertrag und zahlen Miete, das Geld dafür kommt vom Jobcenter. Die Miete geht an den Träger. Soweit so gut.
In unseren Großstädten mangelt es an bezahlbaren Wohnungen. Das ist nicht neu. Die Pandemie verstärkt diese Situation aber zusätzlich.
Pandemie treibt die Wohnungspreise
Eine dritte "Housing First"-Wohnung war von der Diakonie Dortmund geplant, die Umsetzung aber ist aktuell nicht möglich. Der Grund: Die Wohnungspreise sind schon seit einigen Jahren extrem hoch – die Corona-Pandemie verstärkt diese Lage. "Die Leute legen in der Krise ihr Geld in Stein an", sagt Adams. "Die Preise für kleine Wohnungen sind explodiert. Eine 35 Quadratmeter-Wohnung würde aktuell bis zu 80.000 Euro kosten. Dafür hätte man vor der Pandemie zwei kleine Wohnungen bekommen. Das ist für die Diakonie nicht finanzierbar."
Gleiches gilt für die Vermietung: Wohnungen mit einem sozialhilferechtlich angemessenen Mietpreis sind durch die gestiegenen Preise und durch den aufgekauften Markt kaum zu bekommen: „Brauchten wir vor der Pandemie vier bis sechs Wochen, um eine kleine und bezahlbare Wohnung für einen Wohnungslosen zu finden, sind es heute drei bis vier Monate.“
Die Lösung für Wohnungslose?
"Housing First ist nicht die Lösung für alle Probleme in der Wohnungslosigkeit, sondern vielmehr eine Ergänzung", betont Jan Orlt, Experte für die Wohnungslosenhilfe bei der Diakonie RWL. Deswegen könne das Modell auch nicht als Paradigmenwechsel bezeichnet werden, auch, wenn dieses manchmal so verkauft werde, sagt Orlt.
Das Kaufen von Wohnungen, um diese dann an Wohnungslose zu vermieten, sei nicht neu und eher die Ausnahme, so Orlt. Entscheidend sei hier die Finanzierungsfrage. "Die Strategie der Diakonie RWL ist vielmehr bei den großen Wohnungsgesellschaften und privaten Vermietern dafür zu werben, dass auch wohnungslose Menschen eine Wohnung mieten können." Die Vermieter seien dazu eher bereit, wenn die Diakonie die Vermietung begleite. "Housing First" und klassische Wohnungslosenhilfe helfen beide nicht, wenn es keine bezahlbaren Wohnungen gibt.
Heike Moerland, Leiterin des Geschäftsfeldes berufliche und soziale Integration, vertritt die Diakonie RWL im Bündnis "Wir wollen wohnen!"
Der Wohnungsmarkt muss sich ändern
"Der Bedarf an Housing First-Wohnungen ist viel höher, als die zwei Wohnungen, die wir haben", sagt Adams. Es wäre gut, wenn das Land das Modell unterstützen würde, so die Dortmunderin. Viel besser wäre allerdings, wenn grundsätzlich mehr bezahlbare Wohnungen gebaut würden, damit Menschen, die nicht so viel Geld haben, eine Wohnung finden, betont sie. Das betrifft nicht nur Wohnungslose, sondern auch Rentner mit Grundsicherung, Familien mit vielen Kindern oder Alleinerziehende.
Der jüngste Sozialbericht NRW der Landesregierung zeigt: Es gibt zu wenige Sozialbauten und die Mieten sind zu hoch. Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum. Dafür setzt sich die Diakonie RWL mit Partnern im Bündnis "wir wollen wohnen" und "Bündnis fairer Wohnen" ein.
Text: Christoph Bürgener, Fotos: Diakonisches Werk Dortmund und Lünen, Sabine Damaschke/Diakonie RWL, pixabay
Soziale Hilfen
Impfungen fast geschafft:
Bei der Diakonie Dortmund sollen die Impfungen in der Wohnungslosen- und Eingliederungshilfe bis Ende April geschafft sein: "Alle Mitarbeitende und Klienten sind bereits geimpft oder haben in Kürze ihre Impftermine", berichtet Regina Adams, Expertin für Wohnungslosenhilfe beim Diakonischen Werk Dortmund und Lünen. Das ist aber eine Ausnahme in NRW. Offiziell gibt es keine Impfstrategie für die Wohnungslosenhilfe, wie es sie für die Eingliederungshilfe gibt.
Die Impfungen für die beiden Housing "First-Nutzer" in Dortmund unterscheiden sich allerdings: Ein Nutzer lehnt aktuell Hilfen ab. "Damit behält er zwar die Wohnung, ist jedoch nicht mehr im Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe und gehört somit in die normale Impfreihenfolge, die für uns alle gilt." Der andere Nutzer ist weiterhin Klient des "Ambulant Betreuten Wohnens" und gehört somit zu denen, die in den nächsten Wochen geimpft werden.