15. Januar 2019

Hartz IV-Sanktionen

"Menschen geraten in existenzielle Not"

Fast eine Million Mal pro Jahr kürzen die Jobcenter Regelleistungen, weil Hartz IV-Bezieher Termine versäumen oder Jobangebote nicht annehmen. Jetzt verhandelt das Bundesverfassungsgericht darüber, ob und wie stark der Staat das Existenzminimum kürzen darf. Die Diakonie hofft, dass nun endlich Klarheit geschaffen wird und spricht sich für die Abschaffung der Sanktionen in der Grundsicherung aus.

Kleingeld auf dem Tisch

Kein Geld mehr für Essen, Kleidung, Wohnen, weil der Termin beim Jobcenter verpasst wurde? Die Diakonie hält die jetztigen Sanktionsregeln für unangemessen.

Die Erwartungen an das Bundesverfassungsgericht sind hoch. Es soll nun klären, ob die aktuellen Sanktionsregeln für Hartz IV-Bezieher überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Erlaubt die Verfassung, dass ein Mensch eine Zeit lang mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss? Denn genau das passiert immer wieder, wenn Hartz IV-Bezieher Termine versäumen oder Stellenangebote ausschlagen.

Dann kann das Jobcenter Leistungen kürzen, weil sie ihrer Pflicht zur Mitwirkung nicht nachkommen – und zwar bis zu 60 Prozent bei Erwachsenen und bis zu 100 Prozent bei unter 25-Jährigen. In 2017 lag die Sanktionsquote bundesweit sowie in NRW bei etwa drei Prozent der erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger. Über 32.000 Hartz IV-Empfänger waren durchschnittlich monatlich von mindestens einer Leistungskürzung betroffen, wie der Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW im September 2018 belegt. Im gesamten Jahr 2017 wurden knapp über 103.000 Hartz IV-Bezieher neu sanktioniert. Dabei spielte die Ablehnung eines Job-, Ausbildungs- oder Qualifizierungsangebotes nur eine geringe Rolle. Drei von vier Sanktionen werden aufgrund verpasster Termine mit dem Jobcenter verhängt.

Portrait

Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann weist darauf hin, dass Menschen durch die Leistungskürzungen in Not geraten.

Menschen rutschen tiefer in Not

"Höhe und Umfang der Leistungskürzungen stehen in keiner angemessenen Relation zur Schwere der Verstöße", kritisiert Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann. "Sie lassen die Menschen nur tiefer in Notlagen und Vereinsamung rutschen." Zumal Hartz IV nur das gewährleistet, was Menschen unbedingt brauchen. Die Sanktionen gefährdeten diese Grundlage, mahnt die Diakonie Deutschland. "Wer sanktioniert wird, dem fehlt es nicht an den Annehmlichkeiten des Lebens, sondern schlicht am Geld für Essen, Kleidung, Wohnen", betont Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. "Die Menschen geraten in existenzielle Not."

Hedel Wenner, Leiterin des Kölner Arbeitslosenzentrum KALZ, einem Mitglied der Diakonie RWL, kann das aus ihrer täglichen Arbeit bestätigen. "Wenn unser Arbeitsmarkt sozialer wäre und für Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und mit manchen Handicaps Jobs anbieten würde, bräuchten wir keine Sanktionen", betont sie. Die niedrigen Regelsätze, verbunden mit der Zumutbarkeit, jede Arbeit anzunehmen, die körperlich, geistig und seelisch geleistet werden könne, erzeuge bei den Menschen einen hohen Druck und enorme Ängste.

Portrait

Hedel Wenner, Leiterin des Kölner Arbeitslosenzentrum KALZ, hat bereits vor Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu den Hartz IV-Sanktionen Stellung genommen.

Jugendliche tauchen ab

Besonders betroffen sind Jugendliche unter 25 Jahren, denn bei ihnen kann bereits der erste Verstoß zum Wegfall der Regelleistung für drei Monate führen, ausgenommen Miete und Heizung. Bei weiteren Verstößen wird gar nichts mehr gezahlt. "Die harten Sanktionen haben meist den Effekt, dass die Jugendlichen abtauchen", beobachtet Hedel Wenner. Sie verlieren ihre Wohnung, schlüpfen bei Freunden oder Familie unter, einige verdienen Geld auf dem Schwarzmarkt, andere werden kriminell.

Gemeinsam mit anderen Wohlfahrts- und Sozialverbänden, dem Deutsche Kinderhilfswerk, dem Deutschen Städtetag sowie vielen SPD- und Grünen-Politikern ist sich die Diakonie einig, dass zumindest die bisherigen Sanktionen für junge Hartz IV-Empfänger abgeschafft werden sollten. Selbst der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, kritisiert die bestehenden Regelungen.

NRW-Arbeits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann sieht das anders. "Wenn jemand mit Anfang 20 bei der Jobsuche schludert, kann er sich im Handumdrehen in der Langzeitarbeitslosigkeit wiederfinden. Da dürfen wir nicht achselzuckend zuschauen", betont er in "Zeit online". Für Hedel Wenner offenbaren Aussagen wie diese ein "generelles Misstrauen" gegenüber Hartz IV-Beziehern. "Man will sie zur Arbeit 'erziehen' statt auf Augenhöhe mit ihnen Wege auf den Arbeitsmarkt zu suchen und dabei auch Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen."

Rote Roben am Kleiderständer

Entscheidungen brauchen Zeit - Ein schnelles Urteil über die Hartz IV-Sanktionen ist nicht zu erwarten.

Urteil erst in einigen Monaten

Mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird erst in einigen Monaten gerechnet. Der neue Vizepräsident des Gerichts, Stephan Harbarth, dämpfte bereits die Erwartungen an das Verfahren. Es gehe nicht um die Frage, ob Sozialleistungen mit einem Sanktionssystem politisch sinnvoll seien, sagte er laut Medienberichten am Dienstag. Ihm stelle sich vielmehr die Frage, was der Staat und damit die Gemeinschaft von Menschen fordern dürfe, bevor sie Sozialleistungen erhielten und was er dann eventuell auch durch Sanktionen erzwingen dürfe.

Dass die Verfassungsrichter jede Kürzung des Regelbedarfs für verfassungswidrig erklären, ist also eher unwahrscheinlich. Anders könnte es dagegen mit der konkreten Ausgestaltung der Sanktionen aussehen. Denn viele Juristen halten zum Beispiel die schärferen Sanktionsregeln für unter 25-Jährige für verfassungswidrig, weil sie gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 3 des Grundgesetzes verstoßen. "Wir hoffen, dass endlich Klarheit geschaffen und entschieden wird, dass das Existenzminimum nicht gekürzt bzw. gestrichen werden darf", betont Maria Loheide.

 Text: Sabine Damaschke