19. Mai 2021

Drogenhilfe in der Pandemie

Überdosierung im Lockdown

Einsamkeit, die Angst vor Jobverlust, kein Geld, um an Stoff zu kommen – die Nöte von suchtkranken Menschen haben sich in der Pandemie verschärft. Im vergangenen Jahr sind deutlich mehr Menschen an den Folgen von Drogenkonsum gestorben. In NRW stieg die Zahl der Drogentoten von 292 auf 401. Die diakonischen Suchthilfen sind besorgt.

  • Ein Mann mit Spritze in der Hand liegt auf einer alten Matratze
  • Das Haus der Diakonie in Dinslaken
  • Hand, die mit einer Spritze Drogen von einem Löffel aufzieht

Die Lage ist dramatisch: Im vergangenen Jahr sind deutlich mehr Menschen durch den Konsum illegaler Drogen gestorben. Trauriger Spitzenreiter ist NRW mit 37 Prozent mehr Drogentoten als noch im Vorjahr. Ob die Corona-Pandemie maßgeblich für den Anstieg verantwortlich ist, darüber können Drogenberater nur spekulieren. Die Zahlen überraschen Christina Biederbeck, Leiterin der Diakonie-Drogenberatung in Dinslaken, jedenfalls nicht – auch wenn in ihrem Bereich nicht mehr Todesfälle zu beklagen sind. "Aber wir stellen schon einen erhöhten Bedarf an Krisenintervention fest. Es gibt mehr Rückfälle und Akutkrisen, der Beratungsbedarf steigt, selbst in unserer ländlich geprägten Region."

Biederbeck weiß: Corona und die damit verbundenen Einschränkungen treffen Suchtkranke besonders hart. Sich in der Stadt treffen, Geld für Drogen schnorren, im Tagesaufenthalt einen Kaffee trinken oder zu Mittag essen – all das ist nicht möglich. Häufig sei auch der Kontakt zur Familie abgebrochen. Bleibt nur der Rückzug und das Alleinsein. "Und dann kommenden die Krisen, dann kommen die Rückfälle."

Heike Malz, Leiterin der Sucht- und Drogenhilfe in Witten, in einer Beratungssituation

Zuhören und Unterstützen: Auch in der Corona-Pandemie ist Heike Malz, Leiterin der Sucht- und Drogenhilfe in Witten, weiter für die Klienten da.

Risiko einer Überdosierung steigt

Ein ähnliches Bild zeichnet Heike Malz, Leiterin der Sucht- und Drogenhilfe in Witten, eine Einrichtung der Diakonie Mark-Ruhr. Sie beobachtet, dass Langeweile und Aggression in der Szene zunehmen. "Den Menschen fehlt die Perspektive, wie uns allen, aber die Situation ist für diese Klientel noch einmal schwieriger. Das merken wir auch in der Beratung." Mit jeder Unzufriedenheit wachse die Gefahr, mehr und riskanter zu konsumieren, mit unterschiedlichen Substanzen zu experimentieren, je nachdem, welcher Stoff gerade leicht zu bekommen ist.

Auch Britta Dietrich-Aust, Leiterin der Drogenhilfe in Moers und Kamp-Lintfort am Niederrhein, sieht, dass das Risiko einer Überdosierung in der Pandemie gestiegen ist. "Weil man in der Coronazeit vielleicht mehr einkauft, wenn man an Stoff kommt." Mit der sozialen Isolation fehle zudem ein Stück soziale Kontrolle – und im Zweifelsfall schnelle Hilfe in kritischen Situationen. "Auch wir hatten einen Fall, wo eine Frau an einer Überdosis gestorben ist und erst nach mehreren Tagen gefunden wurde, weil sie ganz alleine war."

Abhängige werden älter

Ein weiterer Erklärungsansatz für die gestiegenen Todesfälle: Die Abhängigen werden älter, auch dank der Methadonsubstitution. Dennoch hinterlässt der jahrelange Konsum Spuren, Langzeitschädigungen gelten als zweithäufigste Todesursache in Zusammenhang mit illegalen Drogen.

Frustrierend sei auch, dass Therapiewillige im Moment lange auf einen Platz warten müssen. Schnelle Entgiftung, schnelle Hilfe, beides wird durch Corona ausgebremst. Umso wichtiger ist es für die Klientel, dass die Arbeit in den Drogenberatungsstellen weiterläuft, per Telefon, aber auch mit persönlichen Beratungen – das ist in der Drogenhilfe in Moers und Kamp-Lintfort, zwei Einrichtungen der Grafschafter Diakonie – Diakonisches Werk Kirchenkreis Moers, nicht anders als in Dinslaken und Witten.

Viele der Suchtkranken fühlen sich einsam und isoliert. Ihnen fehlen die Kontaktcafés. (Foto: Shutterstock)

Viele der Suchtkranken fühlen sich einsam und isoliert. Ihnen fehlt ihr Alltag und der Kontakt zu anderen.

Suchtarbeit läuft weiter, mit strengen Hygieneregeln

Gespräche mit medizinischen Masken, in großen Räumen, mit Abstand, das funktioniere gut, sagt Christina Biederbeck: "Zu 95 Prozent sind die Klienten verständnisvoll und dankbar, dass sie kommen können." Oft leisten die Mitarbeitenden im Moment auch ganz lebenspraktische Hilfen, verteilen Essen oder Kleidung, und informieren: Welche Regeln gelten im Moment? Was darf ich und was nicht? Und wie komme ich an eine Impfung? Für viele eine drängende Frage. Abhängige sind aufgrund von Vorerkrankungen besonders gefährdet, viele haben ein geschwächtes Immunsystem oder leiden unter der Lungenkrankheit COPD und haben entsprechend Angst vor einer Corona-Infektion. Wobei Corona-Fälle in der Szene bislang eher selten gewesen seien, sagen alle drei Suchtexpertinnen übereinstimmend.

Dennoch: Corona zerrt an den Nerven, bei Suchtkranken genauso wie bei Mitarbeitenden in der Drogenhilfe. "Die Krise unserer Klienten ist auch unsere eigene Krise", bringt es Britta Dietrich-Aust auf den Punkt. Auch Mitarbeitende seien stark belastet, die Arbeit ist schwieriger und aufwendiger geworden. "Suchtarbeit ist Beziehungsarbeit, wir arbeiten mit professioneller Nähe und Anonymität. Viele dieser Grundsätze sind jetzt auf den Kopf gestellt. Es geht um Abstand halten und im Falle eines Falles darum, Kontakte nachverfolgen zu können. Trotzdem haben wir das gut hinbekommen."

Zwei Männer laufen nebeneinander

Laufende Unterstützung: In der Sucht- und Drogenhilfe in Witten beraten die Mitarbeitenden auch mal bei einem Spaziergang. Viele der Klienten sind in der neuen Umgebung offener.

Kreative Lösungen in schwierigen Zeiten

Auch Heike Malz aus Witten versucht, das Positive im Blick zu behalten. Mitarbeitende schützen, Hilfesuchende unterstützen, Angebote anpassen, so lautet ihr Motto in der Pandemie. "Damit sind wir gut gefahren. Und die Klientel ist mitgegangen." Ihr Team habe viele kreative und pragmatische Lösungen gefunden, Beratungsgespräche finden zum Beispiel auch mal bei einem Spaziergang statt oder an einem geschützten Platz im Freien. Bei Bedarf werden Hausbesuche gemacht – mit erfreulichen Nebeneffekten, erzählt Heike Malz. "Eine Beratung in einem anderen Setting bewirkt etwas, manche Klienten sind offener geworden." So sei trotz Abstand in einigen Fällen sogar mehr Nähe entstanden und die Hilfe noch individueller geworden.
 
Text: Silke Tornede, Fotos: Shutterstock (erstes Bild im Slider), Diakonie Dinslaken, Unsplash, Diakonie Mark-Ruhr.
Weitere Informationen

Mehr Drogentote in der Pandemie
Die Zahl der an illegalen Drogen verstorbenen Menschen ist im vergangenen Jahr deutlich angestiegen. 2020 wurden in Deutschland 1.581 drogenbedingte Todesfälle registriert. Dies entspricht einem Anstieg von 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr (1.398). Die meisten Verstorbenen wurden, wie bereits in den Vorjahren, in den bevölkerungsreichsten Bundesländern Nordrhein-Westfalen (401 Tote), Bayern (248 Tote) und Berlin (216 Tote) festgestellt. Vor allem der Konsum von Opioiden/Opiaten allein oder in Verbindung mit anderen Stoffen war todesursächlich. Die zweihäufigste Todesursache geht auf Langzeitschädigungen auf Grund von Drogenkonsums zurück. (Quelle: Bericht der Drogenbeauftragten)