Drogenhilfe in der Corona-Pandemie
8 Uhr morgens, die Methadonambulanz der Krisenhilfe Bochum öffnet wie gewohnt – und doch hat das Virus hier vieles verändert. Mitarbeitende tragen Schutzkleidung und sitzen hinter einer Plexiglasscheibe, wenn sie Ersatzdrogen ausgeben. Es gibt eine Einbahnstraßenregelung, markierte Wartezonen auf dem Boden und Desinfektionsspender. Jeweils fünf Suchtkranke dürfen gleichzeitig in die Ambulanz, dann sind die Nächsten dran.
Draußen vor der Tür verteilt ein Mitarbeiter die Wartemarken. "Das klappt vorbildlich", sagt Leiter Tobias Fechner, der nach dem Lockdown Mitte März mit seinem Team die Methadonvergabe in kürzester Zeit umorganisiert und eine Etage tiefer in größere Räume verlegt hat. "Außerdem haben wir unsere Öffnungszeiten erweitert. Und immer, wenn wir es vertreten können, bekommen Abhängige das Substitut jetzt für die maximale Zeit als Take-Home mit." So müssen sie nicht täglich kommen, sondern zum Beispiel nur noch einmal pro Woche.
Tobias Fechner sorgt sich um die Suchtkranken in der Corona-Pandemie. Drogenabhängige gehören zu den Hochrisikogruppen.
Coronakrise trifft Drogenabhängige hart
Sucht macht keine Pause, betont Fechner. Sein Team arbeite derzeit "bis zum Limit", um das Hilfesystem aufrecht zu halten. "Drogenabhängige können nicht sagen, ich gehe jetzt mal in Quarantäne oder mache zwei Wochen Urlaub. Wenn sie nicht konsumieren, geht es ihnen schlecht." Ohnehin habe die Coronakrise Suchtkranke schwer getroffen: Selbsthilfegruppen, Therapie- und Entgiftungsplätze oder niedrigschwellige Angebote wie offene Cafés und Tagesaufenthalte sind eingeschränkt oder geschlossen, soziale Kontakte und Einnahmequellen fallen weg. Sich im öffentlichen Raum treffen, Geld für Drogen schnorren, Flaschen sammeln – all das ist derzeit kaum möglich. Hinzu kommt die Gefahr einer Infektion. Drogenabhängige gehören zu den Hochrisikogruppen. Viele haben ein geschwächtes Immunsystem oder leiden unter der Lungenkrankheit COPD.
Noch gebe es keinen bestätigten Corona-Fall in der Szene, sagt Fechner und beschreibt, wie unterschiedlich die Betroffenen mit der Situation umgehen: Viele hielten sich an die Regeln, tragen Masken und wahren Abstand. Andere seien so in ihrer Sucht gefangen, dass Corona kaum ein Thema sei. "Die teilen sich ihren Joint und geben sich Küsschen." Einigen Leuten tue es gut, mehr Abstand zur Drogenszene zu haben und nur noch einmal pro Woche zur Methadonvergabe zu kommen. Andere seien in der Krise erst recht abgestürzt, weil sie nicht mehr so engmaschig medizinisch betreut werden, sich leichter der Kontrolle entziehen können oder mit der Situation überfordert sind. "Ein Patient hat mir klar gesagt, er wolle kein Take-Home, weil er nicht weiß, ob er damit klarkommt."
Mund-Nasen-Schutz und eine Broschüre: In der Drogenhilfe in Moers und Kamp-Lintfort am Niederrhein erhalten Süchtige ein kleines Paket zum Schutz.
Riskanter Konsum, mehr Alkohol
Das Risiko, mehr zu konsumieren oder die Ersatzdroge weiter zu verkaufen, sei groß, beobachtet auch Britta Dietrich-Aust, Leiterin der Drogenhilfe in Moers und Kamp-Lintfort am Niederrhein. Beide Einrichtungen der Grafschafter Diakonie – Diakonisches Werk Kirchenkreis Moers kümmern sich um fast 200 Substituierte in der psychosozialen Betreuung. "Die Szene berichtet uns, dass es wegen der vermehrten Take-Home-Rezepte gerade so viele Ersatzstoffe auf dem Schwarzmarkt gibt wie noch nie und dass auch riskanter konsumiert wird." Mehr Beigebrauch von illegalen Drogen, mehr Alkohol – Britta Dietrich-Aust rechnet nach der Krise mit einem steigenden Hilfebedarf. Aktuell gebe es aber nicht mehr Anfragen, ins Methadonprogramm zu kommen. Der Drogenmarkt sei nicht zusammengebrochen – auch wenn die Preise zum Teil gestiegen sind, was Abhängige weiter unter Druck setzt.
Viele der Suchtkranken fühlen sich einsam und isoliert. Ihnen fehlt ihr Alltag und der Kontakt zu anderen.
Einsamkeit und fehlende soziale Kontakte
Das größte Problem sieht die Sozialpädagogin in der sozialen Isolation. "Drogenabhängige sind Menschen am Rande der Gesellschaft. Jetzt brechen weitere soziale Kontakte weg. Das ist noch mal ein Schüppchen obendrauf." Einsamkeit und fehlende Kontakte treiben die Szene um, das beobachten auch die Mitarbeitenden der Suchthilfe und Fachstelle für Prävention des Diakonischen Werkes An Sieg und Rhein. Gleichzeitig sei die Arbeit schwieriger und aufwendiger geworden. "Wir wollen Nähe herstellen und Distanz überbrücken. Jetzt müssen wir Abstand halten – das ist schon ein Balanceakt", sagt Leiter Jürgen Graff.
Die Drogenberater kümmern sich jetzt vor allem in Einzelarbeit um die Klienten und versuchen, so gut es geht den persönlichen Kontakt zu halten und bei täglichen Problemen zu helfen. "Die Krise hat uns alle getroffen. Für unsere Klienten ist die Situation nochmal schwieriger. Der Stoff ist teurer, sie erreichen bei den Behörden niemanden", erzählt Streetworker Viktor Berglesow. Von Mitte März bis Ende Mai gab es rund 800 persönliche "face-to-face" Einzelkontakte, berichtet er. Telefonberatung habe sich in der Szene dagegen nicht bewährt. "Das funktioniert vielleicht heute, aber morgen ist das Telefon weg und wir erreichen die Leute nicht mehr."
Markierungen zum Abstandhalten: Im Kontaktladen Café Koko des diakonischen Werks an Sieg und Rhein können die Menschen wieder zur Ruhe kommen.
Kontaktladen und Konsumraum mit neuen Regeln
Immerhin: Seit Anfang Juni ist der Kontaktladen der Suchthilfe wieder geöffnet, mit strengen Auflagen und reduzierter Besucherzahl. "Aber die Leute sind froh, wieder einen Ort zu haben, wo sie in Ruhe zusammen sein können. Wir wurden täglich gefragt: Wann macht ihr wieder auf?", sagt Berglesow. Auch der Konsumraum, in dem Süchtige unter sicheren und sauberen Bedingungen Drogen nehmen können, darf seit Anfang Mai wieder genutzt werden – wegen der Infektionsschutzregeln aber nur von einer Person, nach Anmeldung und eventuell mit Wartezeit. Optimal ist das nicht, weiß Berglesow. "Wenn jemand konsumieren will, muss das jetzt sein und nicht in einer Stunde." Gleichzeitig habe die Krise gezeigt, wie wichtig solche Hilfsangebote sind, ergänzt Tobias Fechner.
Auch bei der Krisenhilfe Bochum, einem Partner der Diakonie RWL, war der Konsumraum vorübergehend geschlossen. In dieser Zeit habe es mehr Spritzen und mehr Drogennotfälle in der Öffentlichkeit gegeben. Seit Anfang Mai ist der Konsumraum wieder geöffnet – mit reduzierter Platzzahl, aber Abhängige haben zumindest wieder die Möglichkeit, Drogen unter weniger riskanten Bedingungen zu konsumieren.
Text: Silke Tornede, Fotos: Diakonisches Werk an Sieg und Rhein, Krisenhilfe Bochum, Grafschafter Diakonie – Diakonisches Werk Kirchenkreis Moers, Pixabay und Shutterstock.
Drogenhilfe Kamp-Lintfort
Fachstelle Suchtprävention des Diakonischen Werks An Sieg und Rhein
Soziale Hilfen
Menschen mit Opioidabhängigkeit
In Deutschland sind schätzungsweise 166.000 Menschen von Opioiden wie Heroin abhängig. Rund die Hälfte von ihnen erhält eine Substitutionsbehandlung mit Methadon und anderen Medikamenten.