27. Juli 2017

Diakonie gegen Armut

Von "ganz unten" zurück - Wohnungslosenhilfe in Saarbrücken

Die einen sind auf ihrem Weg nach Frankreich auf Saarbrückens Straßen gestrandet. Andere hat ihre Sucht oder eine psychische Erkrankung in die Obdachlosigkeit geführt. So vielfältig wie die Ursachen sind auch die Menschen, denen Ulla Frank vom Diakonischen Zentrum Saarbrücken jeden Tag begegnet. Und denen sie dabei hilft, von "ganz unten" in die Gesellschaft zurückzufinden.

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Christa Bergmann hat aus der Obachlosigkeit herausgefunden

Zupacken, auspacken, aufhängen - Bei Christa Bergmann sitzt jeder Handgriff in der Kleiderkammer der St. Johanner Börse in Saarbrücken. Wer sie anspricht, bekommt eine ruhige, freundliche Antwort. "Der Kunde ist hier König", sagt sie und meint es genauso. Christa Bergmanns Kunden sind Menschen, die auf der Straße leben. Die selten Respekt und Freundlichkeit erfahren - und ihn deshalb umso nötiger haben.

Wie sich das anfühlt, arrogant ignoriert oder wüst beschimpft zu werden, nicht dazuzugehören, kein Zuhause, keinen Job und kein Geld zu haben, das kennt die 49-jährige Mitarbeiterin der Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Zentrums Saarbrücken nur zu gut. Sie hat selbst "Platte" gemacht. "Das Leben auf der Straße ist purer Stress", erinnert sie sich. Im Diakonischen Zentrum, mitten in der Stadt, gegenüber der Stadtkirche St. Johann, sollen ihre Kunden Wertschätzung erleben, zur Ruhe kommen, neue Hoffnung schöpfen.

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In der Kleiderkammer ist jeder Kunde für Christa Bergmann "König"

Überall fehlt günstiger Wohnraum

"Viele haben sich aufgegeben, so wie ich damals auch", meint Christa Bergmann. Die langen Jahre der Alkoholsucht, der Entzüge und Rückfälle, der Monate auf der Straße spiegeln sich in ihrem Gesicht wider. Sie haben sie verletzlich gemacht, aber auch mitfühlend für jene, die aus allen sozialen Netzen gefallen und auf der Straße gelandet sind.

Bundesweit betrifft das schätzungsweise rund 335.000 Frauen und Männer, mehr als ein Viertel von ihnen sind Frauen. Doch nicht alle sind bei den Ämtern gemeldet. Daher gibt es keine genauen Zahlen. Im vergangenen Jahr haben knapp 800 Frauen und Männer die Hilfe der Wohnungslosenarbeit des Diakonischen Zentrums Saarbrücken in Anspruch genommen. Die meisten sind zwischen 40 und 49 Jahre alt, 69 Prozent sind männlich.

Ob in Berlin, Bochum, Bielefeld oder Saarbrücken - Obdachlosigkeit gibt es in allen deutschen Großstädten. Egal, wie angespannt der Wohnungsmarkt dort ist. Auch im eher ländlich geprägten Saarbrücken, wo der Quadratmeterpreis deutlich niedriger ist als in Köln oder Düsseldorf, fehlen preiswerte Wohnungen, die etwa durch Sozialämter an Menschen vergeben werden können, die auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Chance haben. Doch die Ursachen der Obdachlosigkeit sind nicht allein darauf zurückzuführen. 

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Obdachlosenhilfe hat viel mit Vertrauen zu tun, betont Ulla Frank 

Wohnen will gelernt sein

"Ich begegne hier vielen Menschen, die mindestens ein Suchtproblem haben und psychisch krank sind", erzählt Ulla Frank, die seit 27 Jahren für das Diakonische Werk an der Saar arbeitet und seit 2002 in der Wohnungslosenhilfe tätig ist. "Sie haben Angst vor den Ansprüchen der Nachbarn, wenn sie tatsächlich eine Wohnung mieten können." 

Regelmäßig die Treppe putzen, die Musik leise drehen, sich im Hausflur auf einen Smalltalk einlassen - nach einem Leben auf der Straße ist all das fremd und muss erst wieder gelernt werden. Ulla Frank berichtet von Klienten, die deshalb zögerten, den Mietvertrag der Wohnung zu unterschreiben, die sie ihnen mit viel Mühe vermittelt hatte.

"Ich musste erst lernen, das zu verstehen und zu akzeptieren", gibt die gelernte Erzieherin zu. "Aber wir gehen neben unseren Klienten, nicht vor ihnen." Oft dauert es lange, bis wohnungslose Frauen und Männer Vertrauen zu den Mitarbeitenden aufbauen, bis sie bereit sind, ihre Sucht oder psychische Erkrankung behandeln zu lassen, bis sie in der Lage sind, eigenständig Anträge bei Sozialämtern, Renten- und Krankenkassen zu stellen, sich eine Wohnung und letztlich auch einen Job zu suchen. "Wir können nur unsere Hilfe anbieten, aber niemanden dazu drängen", sagt Ulla Frank. 

Schlafstelle eines Obdachlosen

Schlafstelle eines Obdachlosen in Saarbrücken

Auf der Straße leben macht krank

Regelmäßig geht sie mit ihrem Kollegen Thomas Braun an die Plätze, wo die Menschen in Saarbrücken "Platte" machen und informiert über das vielfältige Angebot der St. Johanner Börse. In der Kleiderkammer erhalten alle Bedürftigen einmal im Monat für drei Euro saubere Kleidung und Schuhe. Elf Ärzte bieten in zwei Behandlungsräumen des Diakonischen Zentrums Sprechstunden für all jene an, die keine Krankenversicherung haben oder nicht in eine normale Arztpraxis gehen möchten. Dreimal in der Woche gibt es eine Offene Sprechstunde, in der Ulla Frank und ihre Kollegen Obdachlose beraten, ihnen beim Ausfüllen von Anträgen für Behörden oder der Wohnungssuche helfen. 

Arzt schaut in den Mund eines Obdachlosen

Medizinische Versorgung in der St. Johanner Börse (Foto: Martin Kunz)

Ständige Angst vor Gewalt

Je länger die Menschen auf der Straße leben, so die Erfahrung der Diakonieexpertin, umso gefährlicher wird es für die meisten. "Nur wenige erreichen ein Alter von 60 Jahren", beobachtet Ulla Frank. Mangelnde Körperhygiene, Infektionen, die nie richtig auskuriert werden, keine Ruhe und Entspannung.

"Das Leben eines Obdachlosen ist immer öffentlich." Jederzeit können Papiere, Geld und persönliche Gegenstände gestohlen werden. Viele Obdachlose erleben gewaltsame Übergriffe von Rechtsextremen, aber auch von anderen Wohnungslosen. Es gibt kaum Solidarität, jeder muss für sich selbst sorgen.

"Um all das zu ertragen, war ich immer besoffen", erzählt Christa Bergmann. "Doch irgendwann habe ich kapiert, dass ich auf der Straße sterbe, wenn ich so weitermache und bin zur St. Johanner Börse gekommen." Ulla Frank kann einige solcher Erfolgsgeschichten erzählen. 

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Ulla Frank mit dem Leuchtturm, den ein Obachloser für sie gebastelt hat

Hoffnung für jeden Menschen

Doch es gibt auch die anderen Geschichten, die mit dem Tod enden. "Manchmal ist diese Arbeit schwer auszuhalten", sagt sie und holt einen kleinen Leuchtturm hervor, den ihr ein Klient gebastelt hat. Er ist vor einigen Jahren auf der Straße gestorben. "Er wusste, dass ich Leuchttürme liebe", sagt sie. "Sie sind ein Zeichen der Hoffnung. Und die habe ich trotz allem für jeden Menschen, dem ich hier begegne."

Text und Fotos: Sabine Damaschke