Chancengerechtigkeit
1. Was sind die Ursachen für Kinder- und Jugendarmut?
Arme Kinder und Jugendliche wachsen in der Regel in Familien auf, die in Armut leben. Besonders häufig sind Familien mit vielen Kindern, Alleinerziehende und Personen mit Migrationshintergrund betroffen. Eine wesentliche Ursache für Armut ist ein geringes Einkommen. Wie sehr Kinder oder Jugendliche armutsgefährdet oder mit dem Thema Armut konfrontiert sind, hängt stark vom Erwerbs- und Bildungsstatus der Eltern ab, der gleichzeitig Auswirkungen auf deren eigene Bildung hat. So liegt die Armutsgefährdungsquote unter Kindern und Jugendlichen, deren Eltern einen geringen Bildungsabschluss haben, bei 37,6 Prozent. Bei Eltern mit einem höheren Bildungsabschluss liegt sie bei nur 6,7 Prozent (Quelle siehe Infokasten links). Armut wird quasi "vererbt".
Armut ist auch mit Scham behaftet, sagt Heike Moerland, Expertin für Armutsfragen bei der Diakonie RWL. Kinder und Jugendliche aus armen Familien ziehen sich beispielsweise zurück oder erfinden Ausreden, um ihre Armut nicht zeigen zu müssen.
2. Was bedeutet es konkret, arm zu sein?
Armut bedeutet, von lebenswichtigen Dingen zu wenig zu haben oder ganz darauf verzichten zu müssen. Menschen, die arm sind, sparen am Essen, an Ausgaben für Gesundheit oder an Aktivitäten und Mobilität. Einkommensarme Eltern können oft keine teure Kleidung und andere Dinge für ihre Kinder kaufen. Deshalb kaufen sie in Geschäften ein, die Waren im untersten Segment anbieten oder gehen in Kleiderkammern. Oft fallen Kinder und Jugendliche aus armen Familien wegen ihrer Kleidung auf und werden stigmatisiert.
Kinder- und Jugendarmut betrifft viele Bereiche des Lebens: Der Besuch eines Sportvereins, ein Handy, eine Geburtstagsparty, ein Fahrrad, Schulmaterial oder der Kinobesuch mit Freund*innen – fast alles kostet Geld. Ebenso können Veranstaltungen in Kindergarten und Schule, zu denen ein finanzieller Beitrag geleistet werden soll, eine unüberwindbare Hürde darstellen. Auch Mobilität ist ein wichtiges Thema für Jugendliche. Das von der Bundesregierung im Sommer 2022 aufgelegte 9-Euro-Ticket hat es Jugendlichen ermöglicht, mobil zu sein und Orte aufzusuchen, die nicht unbedingt Geld kosten. Das hat Entwicklungschancen eröffnet, die vielen sonst verschlossen geblieben wären.
Armut ist mit Scham behaftet. Es gibt eine hohe Dunkelziffer bei der Frage, wie viele Sozialleistungen von Betroffenen nicht in Anspruch genommen werden. Auch Angebote von staatlichen Institutionen oder Fördervereinen, Kosten für schulische Angebote oder Freizeitangebote zu übernehmen, erreichen nicht alle, die dies in Anspruch nehmen könnten. Kinder und Jugendliche aus armen Familien entwickeln Strategien, um Armut nicht zu zeigen. Sie ziehen sich zurück, erfinden Ausreden oder berichten zu Hause gar nicht erst davon. Scham nagt am Selbstwertgefühl. Vielen Erwachsenen, die in Armut aufgewachsen sind, steckt dies auch dann noch in den Knochen, wenn sie selbst längst aus Armut herausgefunden haben.
Die Diakonie Paderborn-Höxter organisiert seit vielen Jahren eine Schulmaterialienkammer. Denn oft fehlt armen Familien das Geld für Schulranzen, Stifte und Hefte.
3. Was tut die Diakonie vor Ort, um Kinderarmut zu bekämpfen?
Die Bekämpfung von Kinder-, Jugend- und Familienarmut ist seit jeher ein wesentliches Element diakonischer Arbeit vor Ort. So organisiert beispielsweise die Diakonie Paderborn-Höxter seit vielen Jahren eine Schulmaterialienkammer. An einer Schule im Saarland werden zeitweise Schulbrote ausgegeben, weil Kinder ohne Frühstück in die Schule kommen. Die Verantwortlichen wissen, dass damit nur Symptome bekämpft und nicht Armutsursachen beseitigt werden können. Ihnen ist klar, dass strukturell wirkende Maßnahmen wirkungsvoller und weitreichender sind. Sie wissen aber auch, dass die Kinder und Jugendlichen, mit denen sie arbeiten, ohne diese Maßnahmen geringere Chancen auf Integration und eine gute Schul- und Ausbildung haben. Wenn man bedenkt, dass Bildung einer der wichtigsten Faktoren – wenn nicht der wichtigste Faktor – dafür ist, um aus Armut herauszukommen, sind diese Aktionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber für einige Kinder öffnen sie die Tür zu einer Welt, die ihnen sonst verschlossen bliebe.
Diakonische Träger halten viele Beratungsangebote und Unterstützungsleistungen für Kinder, Jugendliche und Familien in Armut vor. Dazu gehören Frühe Hilfen, Kindertagesstätten, Ganztagsangebote an Schulen, Freizeiteinrichtungen, Erziehungsberatungsstellen und mehr. Doch um diese in Anspruch zu nehmen, müssen die Familien davon überhaupt erst wissen. Oft sind es die Menschen, die selbst positive Erfahrungen in einer Beratungsstelle gemacht haben, die anderen davon erzählen.
Außer praktischen gibt es sozialpolitische Aktionen gegen Kinderarmut. So ist beispielsweise das Diakonische Werk in Bonn seit vielen Jahren ein wichtiger Akteur beim Bonner Runden Tisch gegen Kinderarmut. Dieses Bündnis engagiert sich seit Jahren für eine auskömmliche Kindergrundsicherung. Das Diakonische Werk in Dinslaken engagiert sich seit 2022 mit vielen öffentlichkeitswirksamen Aktionen gegen Kinderarmut. Bei Veranstaltungen wurden und werden in beiden Städten Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker*innen adressiert, damit sie sich für eine Gesellschaft ohne (Kinder-)Armut einsetzen.
Kinder aus armen Familien gehen oft ohne Frühstück in die Schule. In einigen Schulen gibt es ein günstiges oder kostenloses Mittagessen.
4. Was tun diakonische Landesverbände und die Diakonie Deutschland, um Kinder- und Jugendarmut zu bekämpfen?
Die Diakonie Deutschland engagiert sich stark in der Lobbyarbeit zur Prävention und Bekämpfung von Armut, insbesondere Kinderarmut. Sie schließt sich mit anderen Akteuren in längerfristigen Kooperationen und Bündnissen sowie zu einzelnen Aktionen zusammen, weist Verantwortungsträger*innen in Politik und Verwaltung auf Missstände und Fehlentwicklungen hin und entwickelt umsetzbare Lösungsansätze.
Beispielsweise haben sich in einem breiten Bündnis aus Zivilgesellschaften und Wissenschaft bis dato 51 Organisationen im Ratschlag Kinderarmut zusammengeschlossen. Die Diakonie Deutschland beteiligt sich stellvertretend für die diakonischen Landesverbände und die lokalen diakonischen Akteure intensiv an dieser Bündnisarbeit, die mehr Solidarität, Wertschätzung, Unterstützung und Chancengleichheit für von Armut betroffene Kinder, Jugendliche und Familien fordert.
Alle Akteure, die im Bereich Armutsbekämpfung aktiv sind, sind sich bewusst, dass wir in Deutschland kein Wissensdefizit haben, sondern ein Umsetzungsproblem. Gegen Armut hilft Geld. Prävention von Kinderarmut ist eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Kindergrundsicherung darf daher jetzt nicht den Sparvorhaben der Bundesregierung zum Opfer fallen.
Die Diakonie Deutschland hat 2023 eine Tochtergesellschaft des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW ECON GmbH) beauftragt, die Wirkung einer Kindergrundsicherung zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut wissenschaftlich zu belegen (Quelle siehe Infokasten links). Die DIW-Studie zeigt Zusammenhänge zwischen Kinderarmut und ihren Auswirkungen auf Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe auf, die darauf schließen lassen, dass die Folgekosten in den staatlichen sozialen Sicherungssystemen erheblich sind. Daneben entgehen dem Staat infolge von Kinderarmut Einnahmen durch entgangene wirtschaftliche Aktivitäten und eine geringere Produktivität. Die DIW-Studie zeigt, dass die geltenden familien- und sozialpolitischen Regelungen ein massives soziales Ungleichgewicht haben. Von der Einführung einer Kindergrundsicherung profitieren danach am stärksten Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern, also die Gruppen, die besonders häufig von Armut betroffen sind. Sie profitieren umso mehr, je stärker der Fokus auf einer Erhöhung des Existenzminimums liegt und nicht auf einer Strukturreform. Kinderarmut kann jedoch nur dann wirksam bekämpft und verhindert werden, wenn die Kindergrundsicherung entsprechend ausgestattet wird und existenzsichernd ist.
Diese viel beachtete Studie im Auftrag der Diakonie zeigt, wie wirkmächtig die politische Lobbyarbeit der Diakonie und anderer Wohlfahrtsverbände sein kann. Dennoch: Politische Entscheidungen unterliegen weiteren Einflüssen und werden im parlamentarischen Verfahren getroffen. Dass aufgrund der klaren Datenlage kurzfristig eine auskömmliche Kindergrundsicherung eingeführt wird, kann nicht erwartet werden. Dennoch macht das Beispiel Mut.
Eine wesentliche Ursache für Armut ist ein geringes Einkommen, so Dr. André Hartjes, Leitung Geschäftsfeld Flucht, Migration und Integration bei der Diakonie RWL. Familien mit Migrationshintergrund seien besonders häufig betroffen.
5. Was ist das Besondere an diakonischer Arbeit zur Armutsbekämpfung?
Es sind "weiche Faktoren", die Unterschiede zwischen diakonischer Arbeit und der Arbeit anderer Träger aufzeigen können. So beeinflussen Haltung und Menschenbild die Arbeit der Mitarbeiter*innen der Diakonie. Wenn in der täglichen Arbeit die Aussage ernst genommen wird, dass sich in jedem Menschen die Ebenbildlichkeit Gottes widerspiegelt und die Menschenwürde unantastbar ist, dann hat es Auswirkungen auf die Begegnungen zwischen Mitarbeitenden der Diakonie und den Menschen, die sich Unterstützung wünschen.
6. Welche konkreten Maßnahmen können vor Ort dazu beitragen, Kindern und Jugendlichen aus Familien mit wenig Geld Teilhabe zu ermöglichen?
Es muss nicht immer das Label "Armutsbekämpfung" auf einer Aktion kleben – man kann auch mit kleinen Maßnahmen tätig sein. Wichtig dabei ist, aufmerksam durchs Leben zu gehen, Armut wahrzunehmen, in politischen Debatten oder in der Schule darauf hinzuweisen, dass Armut in Deutschland existiert und Kinder und Jugendliche besonders darunter leiden.
Kinder- und Jugendfreizeiten können so gestaltet werden, dass Kinder aus Familien mit geringem Einkommen daran teilnehmen können. Das fängt bei der Preisgestaltung und Taschengeldempfehlungen an und geht weiter bei der Frage, wo und wie Werbung dafür gemacht wird (neben dem Hinweis im Gemeindebrief auch eine gezielte Ansprache).
Wenn Armut – und insbesondere Kinder- und Jugendarmut – sichtbar gemacht wird, ist dies ein erster Schritt. Es gibt nicht "die eine" Maßnahme, um Armut zu verhindern oder abzuschaffen. Jede und jeder einzelne können und müssen ihren Beitrag dazu leisten, um Kindern und Jugendlichen ein gesundes Aufwachsen mit gleichen Chancen zu ermöglichen.
Dieser Artikel von Heike Moerland, Leitung Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration der Diakonie RWL, und Dr. André Hartjes, Leitung Geschäftsfeld Flucht, Migration und Integration der Diakonie RWL, ist zuerst in der Zeitschrift für Jugend- und Bildungsarbeit "das baugerüst" erschienen, Ausgabe 1/2024, und wurde für diese Veröffentlichung leicht überarbeitet.
Soziale Hilfen
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt (destatis) Nr. N045 vom 26. Juli 2023: Kinder und Jugendliche von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss besonders von Armut bedroht.
DIW Econ, Kosten (k)einer Kindergrundsicherung: Folgekosten von Kinderarmut, Kurzexpertise für die Diakonie Deutschland