Armut
Setzt sich seit Jahren für eine Kindergrundsicherung ein: Heike Moerland, Leitung Geschäftsfeld berufliche und soziale Integration der Diakonie RWL.
Frau Moerland, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie vom Bettelverbot in Krefeld lesen?
Heike Moerland Von diesen Verboten halte ich nichts. Es gibt immer wieder Ansätze, um Städte "sauber" zu halten. Dazu gehören auch Parkbänke mit Metallbügeln, damit sich Obdachlose nicht hinlegen können. Und dazu gehört auch das Bettelverbot. Ich würde sagen: Wir müssen Armut bekämpfen und nicht Menschen, die von Armut betroffen sind. Ja, vielleicht fühle ich mich gestört, wenn ich einen schönen Abend verbringen will und dann auf der Straße nach Geld gefragt werde. Das wollen viele Menschen in diesem Moment lieber ausblenden und sich auf den schönen Abend konzentrieren. Aber so ist das Leben nun mal nicht.
Spiegelt die Zahl von Bettelnden auf der Straße wirklich die Armut in Deutschland wider?
Moerland Nein. Armut hat viele verschiedene Gesichter. Der größte Teil der Armut in Deutschland ist eher unsichtbar. Die Menschen versuchen über die Runden zu kommen. Dann bleibt am Ende des Monats auch schon mal der Kühlschrank leer. Die allermeisten Betroffenen haben ein hohes Schamgefühl. Wer auf der Straße bettelt, dem geht es so schlecht, dass er bereit ist, in aller Öffentlichkeit zu zeigen: Ich bin arm. Mir geht es nicht gut.
Wer auf der Straße bettelt, dem geht es so schlecht, dass er bereit ist, in aller Öffentlichkeit zu zeigen: Ich bin arm.
Aber Menschen können doch Sozialleistungen beantragen, sind die nicht auskömmlich?
Moerland Die Diakonie hat schon vor einigen Jahren berechnen lassen, dass der Regelsatz deutlich höher liegen müsste, um ein menschenwürdiges Existenzminimum zu erreichen. Die Erhöhung der Regelsätze Anfang dieses Jahres beim Umstellen des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) auf das neue Bürgergeld hat nicht einmal die Inflation ausgeglichen. Dazu kommen die steigenden Wohnungspreise und der enge Wohnungsmarkt: Sozialleistungsempfänger leben so manchmal in Wohnungen, deren Kosten nicht komplett durch den Regelsatz abgedeckt sind. Das kann passieren, wenn die Wohnung um wenige Quadratmeter zu groß ist, weil beispielsweise der Partner verstorben ist. Der Wohnungsmarkt ist so eng, dass sie sich scheuen, ihre größere Wohnung zu kündigen – aus Angst, keine neue Wohnung zu bekommen. Also zahlen sie jeden Monat selbst Geld dazu, das sie eigentlich nicht haben. Wir sehen auch, dass Menschen ihre Stromkosten nicht mehr bezahlen können, weil der Regelsatz zur Deckung der gestiegenen Kosten nicht reicht.
Gibt es Menschen, die besonders gefährdet sind?
Moerland Alleinerziehende, Familien mit vielen Kindern und Menschen mit Migrationshintergrund sind laut Statistik besonders gefährdet. Die Zahl der alten Menschen, die von Armut betroffen sind, liegt zwar noch unter dem Durchschnitt, steigt aber kontinuierlich. Aber die Chance aus Armut herauszukommen, ist für sie oft aussichtslos, weil es keine Perspektive für eine Einkommensquelle gibt. Und das macht uns Sorge.
Armut macht die Menschen einsam, viele ziehen sich zurück.
Was macht Armut mit Menschen?
Moerland Die Folgen von Armut sind verheerend. Denn Armut führt auch zur Ent-Solidarisierung und Einsamkeit: Die soziale Teilhabe ist dann sehr eingeschränkt. Es ist kein Geld da, um mal eben mit Freunden einen Kaffee trinken zu gehen, im Sportverein mitzumachen oder den Eintritt für Kino oder Theater zu bezahlen. Also ziehen sich viele Menschen zurück. Wir hören auch oft, dass sich Freundeskreise in diesen Situationen verändern.
Was ist nötig, um der Armut etwas entgegensetzen zu können?
Moerland Unsere sozialpolitischen Forderungen sind eindeutig: Die Regelsätze müssen erhöht werden. Hartz IV wurde erfunden, um kurzfristige Notlagen zu überbrücken. Daran hat auch die Ablösung durch das Bürgergeld nichts geändert. Dahinter steckt die Annahme, in dieser Zeit auch noch auf persönliche Rücklagen zurückgreifen zu können. Sozialleistungen sind also gar nicht darauf ausgerichtet, langfristig davon zu leben. Die Realität sieht aber anders aus: Viele Menschen befinden sich sehr lange im Leistungsbezug. Sie haben einfach keine Rücklagen. Außerdem fordern wir bezahlbaren Wohnraum. Wir wissen: Es kann so nicht weiter gehen. Und wir hoffen: Steter Tropfen höhlt den Stein. Es muss sich allerdings schnell etwas ändern.
In den Beratungsstellen können Erfolgsgeschichten beginnen. Vor allem geht es dabei um Hilfe zur Selbsthilfe.
Welche Möglichkeit bietet die Diakonie Menschen in Armut?
Moerland Es gibt eine Vielzahl von Beratungsangeboten. Wenn jemand Hilfe braucht, dann muss er allerdings auch wissen, an wen er sich wenden kann. Dafür gibt es natürlich Flyer. Aber wir machen die Erfahrung, dass vor allem Mundpropaganda funktioniert. Dann erzählt einer dem anderen, wo er Unterstützung bekommen kann. Das Angebot ist heute sehr spezialisiert: Es reicht von der Allgemeinen Sozialberatung über die Beratungsstelle für Erwerbslose, von der Schuldnerberatung bis zur Beratung in Wohnungsnotfällen. Wenn ich einmal in einer Beratungsstelle angekommen bin, nimmt mich im besten Fall jemand an die Hand und zeigt mir den Weg zu der richtigen Beratung für meine individuelle Situation. Die Spezialisierung ermöglicht es, hochkomplexe Themen gemeinsam in den Blick zu nehmen. Die Berater*innen sind echte Expert*innen auf ihrem Gebiet.
Und was kann Beratung leisten? Beginnen hier Erfolgsgeschichten?
Moerland In der Beratung können Erfolgsgeschichten beginnen. Vor allem geht es um Hilfe zur Selbsthilfe. Ein Beispiel aus der Allgemeinen Sozialberatung: Viele Sozialleistungen sind den Menschen gar nicht bekannt. Da kann die Beratung ansetzen. So wird zum Beispiel das Geld aus dem Topf für Bildung und Teilhabe viel zu wenig abgerufen, weil viele Betroffene gar nicht davon wissen. In der Beratung kommen diese Möglichkeiten auf den Tisch, es werden Anträge gestellt und Möglichkeiten ausgelotet. Manchmal brauchen Menschen einfach mehr Geld zum Leben: Dann kommen sie wieder klar.
Ist die Finanzierung der Beratungsstellen gesichert?
Moerland Das kann man so pauschal nicht sagen. Es gibt Beratungsangebote, die werden von Kommunen mitfinanziert, andere werden vom Land oder Landschaftsverbänden mitgetragen. Und immer wieder entstehen auch Finanzierungslücken, vor allem bei der Allgemeinen Sozialberatung. Es ist wichtig, dass Kommunen erkennen, dass die Sozialberatung zur Daseinsvorsorge gehört und entsprechend finanziert werden muss. Damit wäre viel gewonnen.
Die Fragen stellte Theresa Demski, Fotos: Andreas Endermann (Diakonie RWL), S. Hofschläger/Pixelio, Lerox Skalstad/Pixabay