29. September 2022

Arbeitslosenreport NRW

Arm trotz Arbeit

Bei immer mehr Menschen in Nordrhein-Westfalen reicht das Einkommen nicht aus, um ihr Leben damit zu bestreiten. Frauen und Zugewanderte verdienen häufig besonders wenig, so dass viele von ihnen zusätzlich auf Sozialleistungen angewiesen sind. Die steigenden Energiekosten verschärfen ihre Situation. Berater*innen der Diakonie Mark-Ruhr erwarten, dass immer mehr Menschen zu ihnen kommen werden.

  • Ein Mann zieht leere Taschen aus seiner Jeanshose
  • Junge Frau mit Rechnungen vor Laptop und Taschenrechner.
  • Jede Münze mehrmals umdrehen müssen viele Menschen mit sehr niedrigem Einkommen.

Die Not wird immer drängender, merkt Tanya Löber-Kämper. "Zu mir kommen immer mehr Frauen und Männer, die keinen Cent mehr im Portemonnaie haben. Sie fragen nach einem Lebensmittelgutschein oder bitten, dass wir ihre Apotheken-Rechnungen übernehmen." Das ist über ein Gemeindeprojekt in Notfällen möglich. Die Menschen, die die Beratungsstelle Arbeit und Allgemeine Sozialberatung im FAIR-Haus Schwelm aufsuchen, sind zunehmend verunsichert. "Viele sagen: 'Ich weiß gar nicht mehr, wie ich das alles noch bezahlen soll.'"

In den vergangenen Wochen kamen immer mehr Klient*innen mit hohen Nachzahlungen oder massiven Erhöhungen von Abschlägen in die Beratungsstelle Arbeit der Diakonie Mark-Ruhr. "Wir merken, dass die Menschen ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr bestreiten können", sagt die 51-Jährige. Die gestiegenen Preise für Energie, Miete und Lebensmittel treffen jene besonders hart, die nicht noch mehr sparen können.

Menschen warten auf einen Termin.

Warten auf Beratung: Die Anfrage wächst, bemerken die diakonischen Beratungsstellen.

"Die große Welle kommt noch"

Wie zum Beispiel den Vater, der zu wenig verdient, um seine siebenköpfige Familie zu ernähren: Er ist Aufstocker beim Jobcenter, erhält zusätzlich Arbeitslosengeld II. Angesichts der steigenden Energiekosten hat der Vermieter die Abschläge für die Heizung vorsorglich auf 250 Euro im Monat erhöht. "Natürlich kann die Familie das nicht zahlen", so Tanya Löber-Kämper. "Das Problem: Es ist noch nicht klar, inwieweit die Angemessenheitsgrenzen beim Jobcenter erhöht werden." 

Damit legt die Sozialpädagogin den Finger in die Wunde: Dass die Energiekosten steigen, ist klar – nur um wie viel? Das ist noch nicht abzusehen. "Die Jobcenter sind genauso unwissend wie wir, wie die Erhöhungen ausfallen werden", erklärt Tanya Löber-Kämper. "Also können die Behörden ihre Werte noch nicht anpassen." Die siebenköpfige Familie liegt mit einem Abschlag von 250 Euro noch im Rahmen: Für sie wären zwischen 210 und 252 Euro angemessen.

"Das dicke Ende kommt zum Schluss", sagt Tanya Löber-Kämper. "Aber wenn dann die Nachforderungen kommen und die Regelsatzerhöhung nicht fürs Überleben ausreicht, wird es düster." Den gestiegenen Bedarf an Beratung merkt sie bereits. "Viele Klient*innen kommen neu zu uns. Wir werden noch eine große Verzweiflung in unseren Beratungsstellen spüren."

Putzeimer:

Menschen im Niedriglohnsektor können von von ihrem Gehalt kaum ihr Leben bestreiten.

Hartz IV trotz Job

Arm trotz Arbeit – so geht es vielen Menschen, wie der aktuelle Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW bestätigt. Lag der Anteil derer, die zusätzlich zu ihrem sozialversicherungspflichtigen Job noch Hartz IV bekommen, 2007 noch bei etwa acht Prozent in NRW, so waren es 2021 fast elf Prozent. Insgesamt haben 22 Prozent der Menschen, die Leistungen nach SGB II beziehen, weitere Einkommen – überwiegend aus einer Erwerbstätigkeit.

Zudem wächst der Niedriglohnsektor in NRW. "Bei immer mehr Menschen in NRW reicht das Einkommen nicht, um die Familie zu versorgen", erklärt Marc Nottelmann, Referent für Arbeitsmarktpolitik bei der Diakonie RWL. "Das ist ein Skandal." Der Arbeitslosenreport zeigt: 9,6 Prozent der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten verdienen lediglich 2.000 Euro brutto pro Monat und weniger. Und unter denen verdienen Frauen und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit besonders schlecht. Der Frauenanteil im Niedriglohnsektor ist mit 14,5 Prozent doppelt so hoch wie der der Männer (7,4 Prozent). Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit stehen mit 22,8 Prozent im Vergleich sogar dreifach schlechter da als Deutsche (7,5 Prozent).

Fehlende Qualifikationen

"Typische Jobs sind bei Zeitarbeitsfirmen, etwa im Lager bei großen Versandunternehmen", erklärt Gürkan Callar. Die meisten seiner Klient*innen arbeiten im Niedriglohnbereich. Der 38-Jährige berät bei der Diakonie Mark-Ruhr in Hagen Geflüchtete rund um den Arbeitsmarkt, hilft ihnen beim Jobeinstieg und unterstützt bei Problemen. "Menschen im Lager leisten schwerste Arbeit. Die meisten von ihnen müssen die Kraft dafür körperlich selbst aufbringen, weil sie keinen Gabelstapler fahren dürfen", erläutert Gürkan Callar. Sie bräuchten also die Möglichkeit, einen Gabelstaplerführerschein zu machen. "Wir müssen den Fokus auf Qualifizierung setzen. Dann ist auch eine bessere Bezahlung möglich."

Doch das ist nicht immer leicht, weiß Tanya Löber-Kämper. "Wachsen Kinder in Armut auf, wollen sie so schnell wie möglich eigenes Geld verdienen. Es ist schwierig, ihnen dann zu vermitteln, dass sie erst eine Ausbildung machen sollen, damit sie später besser verdienen."

Marc Nottelmann, Diakonie RWL-Referent für berufliche Integration

Der Gesetzgeber muss gerechte und angemessene Bezahlung für alle gewährleisten, fordert Marc Nottelmann, Diakonie RWL-Referent für berufliche Integration.

Mehr Chancen ermöglichen

Der hohe Anteil von Frauen und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit im Niedriglohnsegment erklärt sich jedoch nicht nur durch fehlende Qualifikationen, unterstreicht Diakonie RWL-Experte Marc Nottelmann. "Es gibt strukturelle Diskriminierungen beim Gehalt: Frauen und Zugewanderte werden für die gleichen Jobs schlechter bezahlt." Hier sei der Gesetzgeber gefordert, um gerechte und angemessene Bezahlung aller Menschen zu gewährleisten.

Die, die es schaffen, sieht Gürkan Callar normalerweise nicht wieder. Eine von ihnen ist eine junge Frau aus Guinea. Mit Anfang 20 bewies sie langen Atem: Erst holte sie ihren Realschulabschluss in der Abendschule nach, dann startete sie eine Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten. Mit Erfolg: Sie wurde in einen festen Job übernommen.

"Zu so einem Karriereweg gehört auch immer eine ordentliche Portion Ehrgeiz", sagt der angehende Sozialarbeiter. Schon viele scheitern daran, einen Abschluss an der Abendschule nachzuholen. "Besonders Alleinerziehende haben dort mit großen Herausforderungen und Kompromissen zu kämpfen." Deshalb brauche es mehr Strukturen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind, meint er: "Mehr Arbeitgeber sollten Ausbildungen in Teilzeit ermöglichen. Viele Alleinerziehende können sich nicht beruflich bilden, weil sich die Arbeits- und Betreuungszeiten nicht vereinbaren lassen."

Text: Jana Hofmann, Fotos: Shutterstock, Pixelio.de, Pixabay

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Marc Nottelmann
Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration
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