16. Februar 2018

Straffälligenhilfe

Resozialisierung neu denken

Wer in Deutschland im Gefängnis saß, findet nur schwer zurück in ein straffreies Leben. Zwei Drittel der Haftentlassenen begehen innerhalb von sechs Jahren neue Straftaten. Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen? "Wir müssen Resozialisierung neu denken", meint Diakonie RWL-Referentin Sabine Bruns. Unter diesem Titel hat sie jetzt mit Marie-Therese Reichenbach von der Diakonie Deutschland ein Fachbuch herausgegeben.

Portrait

Sabine Bruns ist Referentin für Straffällingenhilfe bei der Diakonie RWL.

Ihrem Buch, in dem Experten aus Justiz, Bewährungs- und Straffälligenhilfe in zwölf Aufsätzen über Resozialisierung diskutieren, haben Sie ein Zitat von Dostojewski vorangestellt: "Den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man am Blick in ihre Gefängnisse." Was sehen wir denn, wenn wir heute in unsere Haftanstalten schauen?

Bundesweit leben in Deutschland rund 64.000 Menschen hinter Gittern. Hier in Nordrhein-Westfalen gibt es 36 Anstalten mit rund 16.000 Inhaftierten. Wenn wir dort hineinschauen, entdecken wir, dass 94 Prozent der Strafgefangenen Männer sind und knapp 30 Prozent einen Migrationshintergrund hat. Sie leben oft in alten, maroden Gebäuden, die renoviert werden müssen. Verglichen mit früheren Jahren werden heute zwar nicht mehr Menschen inhaftiert, aber sie müssen längere Haftstrafen absitzen. Das hat den Effekt, dass wir in den Gefängnissen immer mehr ältere Menschen haben. Damit wird nicht nur Demenz und Pflegebedürftigkeit zum Thema, sondern auch die Frage, wie eine Resozialisierung nach so vielen Jahren noch gelingen kann.

Unter einer gelungenen "Wiedereingliederung in die Gesellschaft" stellen wir uns gemeinhin einen Haftentlassenen vor, der ein bürgerliches Leben lebt. Sie hinterfragen das. Warum?

Mit dieser Vorstellung, die ja fest in unseren Köpfen verankert ist, übertragen wir einfach die Werte unserer Wohlstandsgesellschaft auf Menschen, die vielleicht anders leben möchten. Wer sagt denn, dass jeder eine Wohnung, einen Arbeitsplatz und eine Familie haben muss, um glücklich zu sein? Es sind auch andere Lebensentwürfe möglich. Das gilt es zu akzeptieren. Für mich ist es eine Frage der Würde, Strafentlassenen die Freiheit zu lassen, wie sie ihr künftiges Leben – natürlich ohne weitere Straftaten zu begehen – gestalten möchten. Dafür will das Buch den Blick öffnen.

Mann mit auf dem Rücken in Handschellen gefesselten Händen

Muss jeder Straftäter ins Gefängnis? Nein, meint Sabine Bruns (Foto: Rike/pixelio.de)

Sie hinterfragen aber auch die Notwendigkeit, Menschen für Straftaten hinter Gitter zu bringen. Ist für Sie eine Gesellschaft ohne Gefängnisse denkbar?

Nein. Ich glaube, dass es Haftanstalten für gefährliche Straftäter geben sollte, vor denen die Gesellschaft geschützt werden muss. Doch das ist eine Minderheit. In unseren Gefängnissen sitzen viele Menschen, die wegen kleinerer Vergehen verurteilt wurden und durch die Haftstrafe nicht re-, sondern desozialisiert werden. In NRW gibt es rund 1.000 Inhaftierte, die eine Geldstrafe etwa wegen mehrfachen Schwarzfahrens nicht bezahlen konnten. Warum lässt man sie nicht stattdessen gemeinnützige Arbeit leisten? So reißt man sie nicht aus allen sozialen Bezügen heraus, sondern hilft ihnen, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen.

Was ist mit all jenen, die schwerere Verbrechen begangen haben?

Da sollten wir stärker nach den Gründen für ein Vergehen und auch nach technisch machbaren Alternativen zum Strafvollzug schauen. Wer aufgrund einer Suchterkrankung kriminell wurde, wäre unter strengen Auflagen in einer Rehabilitationsklinik besser aufgehoben. Statt eines Gefängnisaufenthaltes wäre für viele Straftäter auch eine sogenannte elektronische Aufenthaltsüberwachung denkbar. Länder wie Österreich, Italien, Polen, die Schweiz, die Skandinavischen Länder und die USA haben damit gute Erfahrungen gemacht. Mit der Fußfessel werden Rehabilitationsquoten von über 70 Prozent erreicht.

Polizeiwagen

Bei Straftaten von Migranten wird die Polizei schneller gerufen und es gibt doppelt so oft eine Anzeige (Foto: Nicolehe/ pixelio.de)

Anfang des Jahres sorgte eine Studie des Kriminalwissenschaftlers Christian Pfeiffer für Aufsehen. Darin belegt er, dass es deutlich mehr Gewalttaten von Flüchtlingen in Niedersachsen gibt. Ihr Buch beurteilt kriminalstatistische Daten kritisch. Warum?

Es ist wichtig, bei diesen Daten genauer hinzuschauen. Ein Grund für die angeblich hohen Zahlen in der Ausländerkriminalität, die Pfeiffer selbst in seiner Studie nennt, liegt darin, dass Gewaltdelikte von Flüchtlingen mindestens doppelt so oft angezeigt werden wie von deutschen Tätern verübte Gewaltdelikte. Dadurch erreichen Straftaten von Migranten eine entsprechend erhöhte Sichtbarkeit. Hinzu kommt, dass in der Statistik alle ausländischen Staatsangehörigen erfasst sind, also auch solche, die ihren Wohnsitz nicht in Deutschland haben. Aber wir müssen auch nach den Ursachen von Gewaltkriminalität sehen, die in den Daten nicht erfasst sind. Die jungen männlichen Flüchtlinge, die hier auffällig werden, haben in Deutschland meist keine Bleibeperspektive, ohne die Integration schwierig ist. Diese Gruppe stellt auch für den Vollzug eine erhebliche Herausforderung dar.

Seit Jahren werden zwei Drittel aller Haftentlassenen innerhalb von sechs Jahren rückfällig, ein Drittel wird wieder mit Haft bestraft. Diesen Kreislauf will die Straffälligenhilfe durchbrechen, aber offenbar gelingt das kaum. Wie kann sie erfolgreich werden?

Das geht nur, wenn wir Resozialisierung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen. In dem Buch zeigen wir anhand einiger guter Beispiele - auch aus dem europäischen Ausland -, wie Kirchen, Sozialverbände, Wirtschaft und Politik hier zusammenwirken können. In Deutschland gibt die Justiz 90 Prozent der Gelder für den Vollzug aus. Da bleibt kaum noch etwas für die Straffälligenhilfe, die finanziell ständig an ihre Grenzen kommt. Ein Blick in die skandinavischen Länder zeigt, dass es auch anders geht. Mit dem Effekt deutlich niedrigerer Rückfallquoten.

Das Interview führte Sabine Damaschke. Teaserfoto: Bernd Kasper/pixelio.de

Das Buch "Resozialisierung neu denken – Wiedereingliederung straffällig gewordener Menschen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" ist im Lambertus-Verlag erschienen, hat 220 Seiten und kostet 19,90 Euro. Es kann beim Lambertus Verlag online bestellt werden.

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