Behindertenwerkstätten
Brigitte Schulz an ihrem Arbeitsplatz : Sie kümmert sich um die Retouren für Parfümhersteller L'Oréal
Dass sie in leitenden Positionen gearbeitet hat, glaubt man Brigitte Schulz sofort. Ihr Händedruck ist fest, ihre Stimme klar und deutlich, ihr Auftreten selbstbewusst. "Was machst du denn bei den Bekloppten?" fragten Freunde, als sie vor elf Jahren wieder anfing zu arbeiten - ausgerechnet in einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Behinderung in Mönchengladbach.
"Ich hatte erst auch das Gefühl, dass ich hier nicht hingehöre", gibt Brigitte Schulz zu, die nach dem Abitur in einer großen Restaurantkette und bei der NATO gearbeitet hat. "Es dauerte lange, bis ich offen über meine Psychose reden und zu diesem Arbeitsplatz stehen konnte."
Groß, aber nicht groß genug: Hephata erweitert seine Werkstätten für Menschen mit pyschischen Behinderungen
Mehr Platz schaffen
Heute ist sie Mitarbeiterin der Betriebsgruppe "L’Oréal" in der Werkstatt für Menschen mit psychischen Behinderungen der Stiftung Hephata. Sie bearbeitet die Retouren für den großen Parfümhersteller. Zudem vertritt sie als Werkstatträtin die Interessen der 211 Beschäftigten, die in zwei Betriebsstätten für Menschen mit psychischen Behinderungen tätig sind.
Bald soll eine neue, größere Werkstatt entstehen, die weiteren 50 Menschen mit psychischen Erkrankungen Platz bietet. Denn die Nachfrage steigt stetig.
Martin Weißenberg ist bei der Diakonie RWl zuständig für die Werkstätten
Bedarf an Werkstattplätzen wächst
Rund 700 Werkstätten gibt es in Deutschland, davon befinden sich 118 in Nordrhein-Westfalen. Von den rund 70.000 Menschen, die hier arbeiten, haben 21 Prozent eine psychische Erkrankung. „Der Arbeitsmarkt bietet für diese Menschen keine Bedingungen, die für sie händelbar sind“, sagt Martin Weißenberg.
Er ist bei der Diakonie RWL für 20 Werkstattträger zuständig, die in ihren Betriebsstätten rund 16.000 Menschen mit Behinderung beschäftigen. Die Zahl der Plätze ist in den vergangenen zehn Jahren um drei bis vier Prozent gestiegen.
Packt auch mal selbst mit an: Hephata-Werkstättenleiter Matthijs Kramer an der Archivierungsmaschine
Produktion und Rehabilitation
"Wir haben hier zwei Aufgaben", erklärt Werkstättenleiter Matthijs Kramer. "Wir leisten qualifizierte Arbeit für renommierte Firmen und befinden uns damit in einem Produktionsprozess. Gleichzeitig helfen wir Menschen mit psychischen Erkrankungen auf ihrem Weg zurück in Arbeit und Gesellschaft, unterstützen also ihren Rehabilitationsprozess."
Nach einer von der Arbeitsagentur oder dem Rentenversicherungsträger finanzierten, maximal 27 Monate dauernden Berufsbildungsphase bieten die Werkstätten Dauerarbeitsplätze in verschiedenen Arbeitsbereichen, aber auch sogenannte "betriebsintegrierte Arbeitsplätze" bei Firmen in der Region an.
In den Werkstätten wird sehr auf die Pausen geachtet, um Mitarbeitende nicht zu überfordern
Zu viel Flexibilität überfordert
Zwar spiele die Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle, betont Kramer. Doch der Leistungsdruck in den Betrieben sei groß und je nach psychischer Erkrankung für die betroffenen Menschen schwer auszuhalten.
Schichtdienste, Überstunden und Kundenkontakt verlangten ein hohes Maß an Flexibilität, das viele Mitarbeitende der Werkstätten überfordere. Zudem gebe es Zeiten, in denen sie krankheitsbedingte Schübe oder Rückfälle hätten und nur eingeschränkt oder gar nicht arbeiten könnten. "Das schreckt viele Arbeitgeber ab und führt dazu, dass sie diesen Menschen ungern Arbeitsplätze anbieten. Erst recht nicht unbefristet."
Astrid Heinz (Name geändert) hat das in ihrem Job als Erzieherin immer wieder erlebt. Sie hatte ihren ersten psychotischen Schub schon mit 23 Jahren, mitten im Medizinstudium. Danach machte sie eine Ausbildung zur Erzieherin, fiel aber regelmäßig monatelang aufgrund ihrer Erkrankung aus und bekam deshalb nur befristete Stellen.
Das niedrige Gehalt in den Werkstätten ist immer wieder Anlass für Diskussionen: Brigitte Schulz mit dem Beschwerdekasten
Verdienst und Vergünstigungen
"Seit ich vor zehn Jahren hier angefangen habe, ist meine permanente Zukunftsangst weg“, sagt sie. Zwar verdient sie nur rund 190 Euro im Monat, erhält aber eine Erwerbsminderungsrente und einen Zuschuss vom Sozialamt. Zähle man weitere Vergünstigungen wie die Befreiung der GEZ-Gebühren hinzu, könne sie von ihrem Gehalt solide leben, betont Astrid Heinz.
Außerdem zahlt die Werkstatt für sie hohe Rentenbeiträge ein, die ihr später eine gute Rente sichern. "Ich arbeite in einem netten, verständnisvollen Team und habe viele soziale Kontakte. Für meine Erkrankung muss ich mich nicht schämen oder ständig rechtfertigen."
Astrid Heinz in der Telefonzentrale - einen Monat konnte sie dort nicht mehr arbeiten
Auszeiten kosten nicht den Job
Erst kürzlich hatte die 52-jährige Mitarbeiterin einen Schub mit schlimmen Halluzinationen. Ihrem Job bei der Telefonzentrale konnte sie einen Monat lang nicht nachkommen, aber im Bereich der Archivierung wurde Hilfe benötigt. Dort unterstützte Astrid Heinze die Kolleginnen und Kollegen dabei, Rechnungen und Briefe für Behörden und Firmen zu digitalisieren.
Jederzeit kann sie eine kleine Auszeit nehmen, wenn ihre Konzentration aufgrund der Medikamente nachlässt. Die geregelten Arbeits- und Pausenzeiten helfen ihr, den achtstündigen Arbeitstag durchzuhalten.
Sie haben immer ein offenes Ohr für die Mitarbeitenden: Petra Lenßen vom Sozialen Dienst und Anleiter Reiner Büth im "Lettershop"
Alternative zur Arbeitslosigkeit
32 Angestellte betreuen die Menschen mit psychischen Erkrankungen in 14 Arbeits- und zwei Berufsbildungsgruppen. Sie kümmern sich um die Firmenaufträge, organisieren und leiten die Produktion, qualifizieren die Werkstattmitarbeiter, helfen und beraten aber auch bei der Bewältigung des täglichen Lebens in und außerhalb der Werkstätten.
Im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes sollen nun mehr Firmen mit einem "Budget für Arbeit" motiviert werden, Menschen mit Beeinträchtigungen einzustellen. Denn es arbeiten nur zehn Prozent der Menschen mit psychischen Erkrankungen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Matthijs Kramer und sein Team unterstützten das. Dennoch sind sie überzeugt, dass die Werkstätten auch in Zukunft gebraucht werden. "Unsere Betriebsstätten sind ein Schutzraum und eine wichtige Alternative zu Arbeitslosigkeit und Frühverrentung“, betont Petra Lenßen vom Sozialen Dienst. „Die Arbeit gibt unsere Beschäftigten ihre Würde zurück."
Text und Fotos: Sabine Damaschke; Fotos: Ev. Stiftung Hephata