17. Mai 2017

Diakonie gegen Armut

Willkommen Europa - Erste Hilfe für EU-Zuwanderer

Ein gut bezahlter Job, eine saubere Wohnung und bessere Bildung für die Kinder – all das erhoffen sich Zuwanderer aus armen EU-Staaten, wenn sie nach Deutschland kommen. Stattdessen werden sie oft von dubiosen Firmen, Vermietern und Dolmetschern ausgebeutet. In Dortmund hilft die Diakonie ihnen in der ökumenischen Anlaufstelle "Willkommen Europa" bei einem echten Neustart.

Portait

Geduld zahlt sich aus: Pavel freut sich über seinen Integrationskurs

Das Wartezimmer platzt aus allen Nähten. Überall sitzen und stehen die Besucher. Sie alle hoffen auf Rat und Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche, bei Schwierigkeiten mit der Krankenversicherung oder komplizierten Behördenbriefen. Die Offene Sprechstunde, die sechsmal pro Woche im Büro der ökumenischen Anlaufstelle "Willkommen Europa" stattfindet, ist für viele ein Rettungsanker. Pavel, ehemaliger bulgarischer Soldat, hat ihn vor einem halben Jahr ergriffen. Heute wartet er auf seinen bulgarischen Berater Ivaylo Dimitrov, um ihm seinen Erfolg zu melden: er hat einen Platz im Integrationskurs.

Schon seit fast zwei Jahren lebt der 35-jährige Bulgare in Dortmund. Doch er spricht kaum ein Wort Deutsch. Im Lager eines Textildiscounters war er nur mit Polen zusammen. Dann kündigte der Discounter der Leiharbeitsfirma, bei der er angestellt war. Zehn Stunden täglich hatte er geschuftet, jetzt ließ man ihn die eigene Kündigung unterschreiben. Dass er damit auf eine Abfindung verzichtete, sagte ihm niemand. Auch nicht, dass er als EU-Bürger Anspruch auf Arbeitslosengeld hat. 

Zwei Männer sitzen sich gegenüber am Schreibtisch

Pavel (links) mit seinem Berater Ivaylo Dimitri

Suche nach einem "würdigen Leben"

Nur eines war ihm schnell klar: Ohne Deutschkenntnisse würde er keinen neuen Job finden und sich ein würdiges Leben in Deutschland aufbauen können. Ein Leben, in dem er nicht ständig ausgebeutet wird – von dubiosen Leiharbeitsfirmen, Vermietern, die viel zu hohe Nebenkosten kassieren oder Dolmetschern, die für jede kleine Übersetzung gnadenlos abkassieren.

Zahlreiche EU-Bürger aus Krisenstaaten wurden bereits in ihren Heimatländern von Schleppern für Jobs in Deutschland angeworben. Mit dem Versprechen, sie könnten in Deutschland viel Geld verdienen und müssten dafür noch nicht einmal die deutsche Sprache beherrschen. Ein fataler Irrtum. Statt dessen erwartet sie eine Vielzahl von Schwierigkeiten, die viele direkt in die Armut führen.

Mann sitzt im Wartezimmer mit Handy

Warten, bis ein Berater frei ist: Offene Sprechstunde

Sprache, Arbeit, Wohnen

– das ist der problematische Dreiklang für EU-Zuwanderer, mit denen sich "Willkommen Europa" täglich beschäftigt. In der ökumenischen Anlaufstelle, die Diakonie, Caritas und der Beschäftigungsträger Grün Bau 2014 gründeten, arbeiten zwanzig Fachkräfte, Studierende und Honorarkräfte. Sie sprechen insgesamt 13 Sprachen – von Bulgarisch und Rumänisch bis hin zu Russisch, Serbisch und Spanisch. Alle haben einen Migrationshintergrund.

Mehr als 3.000 EU-Bürger aus den wirtschaftlichen Krisenstaaten haben ihre Hilfe bisher in Anspruch genommen. Viele sind Bulgaren und Rumänen. Im vergangenen Jahr kamen laut einem aktuellen Bericht knapp 8.000 Menschen aus diesen Staaten nach Dortmund, ein Anstieg um nur ein Prozent. In den Jahren zuvor waren es noch deutlich mehr. Dafür ist die Zahl der hilfesuchenden Italiener und Spanier stetig gestiegen.

Täglich betreuen die Mitarbeitenden 60 bis 80 Menschen. Im vergangenen Jahr konnten 337 EU-Zuwanderer mit Hilfe des Projekts Arbeit finden. Über 500 EU-Bürger in prekären Lebensverhältnissen, die keine Sozialleistungen beziehen, haben 2015 und 2016 von kostenlosten Integrationskursen profitiert, die ihnen "Willkommen Europa" vermittelte. 

Portrait

Jeden Tag mit absoluter Armut konfrontiert: Johanna Smith

Teufelskreis der Armut

Die Wohnung, so erklärt Johanna Smith von der Diakonie Dortmund, sei das erste Problem, mit dem EU-Zuwanderer zu kämpfen hätten. "Günstiger Wohnraum ist kaum noch zu bekommen. Doch ohne eine Vermieterbescheinigung kann keine Anmeldung bei den Behörden stattfinden", erklärt sie. "Diese wiederum ist Voraussetzung für einen Arbeitsvertrag, eine Krankenversicherung und den Schulbesuch der Kinder."

Wer also nicht gemeldet bei Verwandten wohnt oder illegal für teures Geld in einer Schrottimmobilie lebt, weil er keine Wohnung findet, kann sich keine Arbeit suchen. Im Gegenteil, er verbraucht schnell alles Ersparte auf und macht Schulden. Johanna Smith, Ethnologin mit bulgarischen Wurzeln, nennt das den "Teufelskreis der Armut". Sie kann zahlreiche traurige Geschichten von Menschen erzählen, die plötzlich kein Geld mehr für Miete, Kleidung und Essen hatten. Dennoch will kaum jemand zurück in sein Heimatland, in dem es selbst mit einem Studium unmöglich ist, eine Familie zu ernähren.

"Fast täglich sind wir hier mit absoluter Armut konfrontiert", sagt sie. Für diejenigen, die keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben und deshalb noch nicht einmal zur Tafel gehen können, stellen die Mitarbeitenden hin und wieder Gutscheine für den Einkauf im Super- und Drogeriemarkt aus. Eine Form der Nothilfe, die mit Spenden finanziert wird. 

Portrait

Jeder ist willkommen: Cristian Roiban hilft bei der Arbeitssuche

Trainings für den Arbeitsmarkt

Die Mitarbeitenden begleiten die EU-Zuwanderer und ihre Familien bei Behördengängen, unterstützen sie bei der Wohnungssuche, organisieren Kleidung und kümmern sich um den Schulbesuch der Kinder. Das Herzstück der ökumenischen Anlaufstelle aber ist die Arbeitsmarktintegration.

Ziel sei es immer, den Klienten einen sozialversicherungspflichtigen Job bei seriösen Firmen in der Umgebung zu vermitteln, betont Cristian Roiban, promovierter Historiker. Gute Chancen auf einen festen Arbeitsvertrag haben sie im Baugewerbe, Lager oder bei Zustellungs- und Reinigungsfirmen.

Doch dafür müssen sie nicht nur die deutsche Sprache verstehen, sondern auch die deutsche Arbeitskultur. Deshalb bietet "Willkommen Europa" eine "Arbeitsmarktalphabetisierung" an. Dort lernen die Klienten, dass sie nicht aus Respekt auf die nächste Anweisung des Chefs warten sollten, sondern von ihnen selbstständiges Arbeiten erwartet wird. Oder dass sie aus Versicherungsgründen nicht einfach eine Verwandte zur Arbeit schicken können, wenn sie selbst krank sind. 

Gruppenbild

Marianna Turi (rechts) fand mit Nicoleta Moreira da Silvas Hilfe einen Job im Hotel

Trotz harter Arbeit ein besseres Leben

Marianna Turi fand mit Hilfe ihrer rumänischen Beraterin Nicoleta Moreira da Silva eine Stelle in einem Hotel. Drei Zimmer muss sie in einer Stunde schaffen. Ein Knochenjob, doch sie ist zufrieden.

"Ich fühle mich in Deutschland viel freier und sicherer", sagt die 42-jährige Rumänin, die vorher in der Landwirtschaft gearbeitet hat. Nur eines vermisst sie: einen kleinen Garten, in dem sie selbst Gemüse ziehen kann.

So geht es auch Pavel. "Dortmund ist so grau", meint der Bulgare. "Wenn ich besser Deutsch spreche, suche ich mir vielleicht einen Job in Stuttgart oder München."

Text und Fotos: Sabine Damaschke