30. Juli 2015

Diakonie-Experte plädiert für Einwanderungsgesetz

"Überalterte Gesellschaft braucht die Flüchtlinge"

Die hohen Flüchtlingszahlen haben in Deutschland die Debatte über ein Einwanderungsgesetz neu entfacht. Der Flüchtlingsexperte der Diakonie RWL, Dietrich Eckeberg, plädiert für die Schaffung legaler Einwanderungswege nach Deutschland. Mit einem Zuwanderungsgesetz alleine sei es aber nicht getan. Deutschland brauche eine neue Willkommenskultur, die nicht nur mit dem Kopf, sondern auch dem Herzen geschieht, meint Eckeberg.

Portrait

Diakonie RWL-Migrationsexperte Dietrich Eckeberg ist zuständig für die Flüchtlings- und Asylverfahrensberatung. (Foto: Diakonie RWL)

Seit dem Zweiten Weltkrieg waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute, nämlich knapp 60 Millionen Menschen. Woran liegt das?

Die Gründe sind vielschichtig. Noch nie hatten wir weltweit so viele Kriege und gewaltsame Konflikte wie heute, die Menschen aus ihren Heimatländern vertreiben. Doch auch die reichen Industrieländer tragen mit ihrer Wirtschaftspolitik, etwa der Subventionierung von Agrarprodukten, dazu bei, dass Menschen vielerorts in den afrikanischen Ländern nicht mehr von ihrer Arbeit leben können, also ihre Existenzgrundlage verlieren. Hinzu kommen ökologische Katastrophen aufgrund der zunehmenden Erderwärmung, die Menschen ihren Lebensraum nehmen. Die meisten der rund 60 Millionen Menschen fliehen in die Nachbarländer, nur ein Bruchteil sucht Schutz und Hilfe in Europa. Im vergangenen Jahr beantragten 600.000 Menschen in der EU Asyl.

Diakonie und Kirche fordern angesichts der verzweifelten Situation vieler Flüchtlinge, Europas Grenzen stärker zu öffnen, Asylsuchende sollen ihr Zufluchtsland frei wählen können. Aber schon jetzt haben sich die Flüchtlingszahlen gegenüber 2011 verfünffacht. Würde das Deutschland nicht überfordern?

Das tut es, sofern wir keine legalen Einreisewege schaffen. Die Abschottung der EU treibt verzweifelte Flüchtlinge in die Hände der Schlepper. Wir sind da mitverantwortlich für Ertrinkende im Mittelmeer. Der geplante Einsatz von Militär ist ein falsches Signal. Ich bezweifle, dass die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, eklatant steigen würde, wenn es legale Einreisewege gäbe. Wir beobachten in der Flüchtlingsarbeit, dass die Menschen meistens in die Nachbarländer und dorthin gehen, wo sie bereits Verwandte oder Freunde haben. Natürlich gibt es bevorzugte EU-Staaten für Asylbewerber und dazu gehört in Europa auch Deutschland. Dafür muss es Ausgleichszahlungen innerhalb der Europäischen Union geben. Ich denke aber, dass wir als wirtschaftlich starkes Land durchaus mehr Flüchtlinge etwa aus Syrien aufnehmen können. Dafür ist die Bereitschaft sowohl von Seiten der Wirtschaft, die dringend mehr Fachkräfte braucht, als auch von Seiten der Bevölkerung da. Wir müssen dann nur auch direkt die Eingliederung in die Gesellschaft fördern!

Sich für Flüchtlinge zu engagieren, hat eine lange Tradition in Diakonie und Kirche. Wie unterscheidet sich kirchlich-diakonische Flüchtlingsarbeit von den Hilfsangeboten anderer Organisationen?

Die breite Paletten der Hilfen, von der Asylberatung über die Wohnungsvermittlung und Sprachkursen bis hin zu konkreter sozialer Unterstützung, werden Sie auch bei anderen Sozialverbänden finden. Diakonie und Kirche orientieren sich am christlichen Menschenbild und an den Menschenrechten. Die Bibel ist voller Fluchtgeschichten. Insofern sind uns die Geflüchteten mit ihren Erfahrungen der Not, Angst und Gewalt besonders nahe. Ihnen wollen wir zu ihrem Recht auf ein menschenwürdiges Leben verhelfen. Diakonie steht an der Seite der Flüchtlinge, tritt ein für ihre Rechte und ist sofern auch parteiisch.

Wie drückt sich das in der Flüchtlingsarbeit aus?

Ein Schwerpunkt der kirchlich-diakonischen Flüchtlingsarbeit liegt in der sogenannten Verfahrensberatung. Wir haben in Deutschland ein kompliziertes Asylrecht, das für Flüchtlinge schwer zu durchschauen ist. Dabei spielt der Asylantrag eine ganz entscheidende Rolle. Aus Scham verschweigen Flüchtlinge häufig, dass sie Folter oder Vergewaltigung erlebt haben und verringern damit ihre Chance auf Asyl. Oder sie unterschreiben aus Höflichkeit ein Protokoll mit falschen Angaben, was ihnen dann später zur Last gelegt wird. Fristen müssen eingehalten werden. All das ist den meisten Flüchtlingen fremd, deshalb brauchen sie dringend kompetente Berater, die ihnen dabei helfen, ihr Recht auf Asyl in Deutschland auch wahrnehmen zu können. Und sie brauchen Ehrenamtliche, die ihnen bei der Eingliederung in die Gesellschaft helfen und dabei fachlich durch sachkundige Hauptamtliche unterstützt werden.

Als Flüchtlingsexperte der Diakonie RWL erleben Sie eine Vielfalt an Engagement in den diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden. Was hat Sie bisher besonders beeindruckt?

Mich fasziniert immer wieder die Vielfalt und Beharrlichkeit, mit der sich Menschen vor Ort für Flüchtlinge einsetzen. Schon seit vielen Jahren beraten und betreuen sie Flüchtlinge und Zuwanderer, nicht erst jetzt, seit Politik und Medien sich prominent damit beschäftigen. Die großen Fragen der Flüchtlingspolitik wie die Abschottung der EU-Außengrenzen oder die Förderung der nicht immer freiwilligen Rückkehr werden gründlich und ernsthaft diskutiert. Im Mittelpunkt stehen nicht die medienwirksamen, bunten oder kreativen Projekte, die es natürlich auch gibt, sondern die Frage, wie Menschen zu ihrem humanitären Recht auf Asyl und in der Folge zu einem Aufenthalt kommen.

Die starke Migration nach Deutschland wird unsere Gesellschaft sicher verändern. Was glauben Sie, wie Deutschland in 50 Jahren aussieht?

Ich rechne damit, dass Zuwanderung anders geregelt ist, nicht nur über Asyl, sondern auch über freizügigere Visa und Arbeitserlaubnisse. Schon aus demografischen Gründen wird es gar nicht anders möglich sein. Unsere überalterte deutsche Gesellschaft braucht dringend jüngeren Nachwuchs. Schon heute setzt sich ja die Wirtschaft vehement dafür ein, dass geduldete Flüchtlinge besser in Arbeit kommen. In den 1990er Jahren war das noch ganz anders. Ich hoffe allerdings darauf, dass diese neue Willkommenskultur nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen geschieht.

Das Gespräch führte Sabine Damaschke. Es ist auch in der aktuellen Ausgabe der evangelischen Wochenzeitung „Unsere Kirche“ erschienen.

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