9. November 2023

Tag der Suchtberatung

Suchtberatung funktioniert auch online

Im Oktober 2022 ist die Modellphase für DigiSucht gestartet. Die trägerübergreifende Plattform bietet digitale Suchtberatung zu den Themen Alkohol, Medikamente, Computerspiele sowie Cannabis/Amphetamine für Betroffene und deren Angehörige an. Als einer von anfangs vier Modellstandorten in NRW ist seit Beginn die diakonische Suchtberatungsstelle in Plettenberg dabei. Fazit nach einem Jahr: "Wir machen weiter." 

  • Ein Social-Media Werbefoto für die Plattform DigiSucht.
  • Frau mit Suchtproblematik in einer Beratung.
  • Viele Menschen haben eine Suchtproblematik mit Alkohol.

Der Mann ahnte schon länger, dass er ein Alkohol-Problem hätte. Aber deshalb eine Beratungsstelle aufzusuchen, erschien ihm viel zu kompliziert. Und möglicherweise würde ihn dort jemand kennen. Oder die Berater*innen wären ihm unsympathisch. "Dieser Mann wäre wohl niemals zu uns gekommen", vermutet Suchttherapeutin Sabine Schneider rückblickend. "Über die Plattform DigiSucht jedoch hat er unverbindlich einen Erstkontakt zu uns hergestellt, sich dann mit mir zum Audiotermin verabredet und ist schließlich in unsere laufende Beratung vor Ort gewechselt." Nun beantragt der Klient sogar eine ambulante Therapie in der Beratungsstelle. "Ein wunderbares Beispiel dafür, wie digitale Suchtberatung die Beratungsarbeit in Präsenz ergänzen kann", sagt Schneider. 

Testen und verbessern

Die Diplom-Sozialarbeiterin und ihr Kollege Frank Horstmann aus der Suchtberatungsstelle in Plettenberg nutzen das digitale Tool DigiSucht seit mittlerweile gut einem Jahr. Im Oktober 2022 wurde die Suchtberatung des Diakonischen Werks des Evangelischen Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg für die digitale Modellphase ausgewählt. Gefördert wird das DigiSucht-Projekt vom Bundesministerium für Gesundheit. "Inzwischen haben sich für Nordrhein-Westfalen 24 Beratungsstellen angeschlossen, Ende des Jahres werden es mehr als 30 sein", sagt Dr. Anne Pauly, Projektkoordinatorin Digitale Suchtberatung für Nordrhein-Westfalen und Leiterin der Geschäftsstelle der Suchtkooperation NRW.  "Die Modell-Standorte testen aktuell noch bis Ende 2023 die Praxistauglichkeit mit ihren Klient*innen gemeinsam", erklärt die Diplom-Sozialpädagogin. "Damit sind sie maßgeblich an der Optimierung und Gestaltung dieses Tools beteiligt."

Suchttherapeutin Sabine Schneider arbeitet in der Beratungsstelle in Plettenberg, die Modellstandort für DigiSucht ist.

Suchttherapeutin Sabine Schneider arbeitet in der Beratungsstelle in Plettenberg und testet die Plattform DigiSucht schon seit rund einem Jahr. 

Sinnvolle Ergänzung 

Der Gedanke dahinter: Die Plattform soll Menschen, die sich bislang nicht getraut oder nicht die Zeit dafür gefunden haben, sich über ihr Suchtproblem mit Profis auszutauschen, einen niedrigschwelligen und schnellen Zugang zu einer Beratungsstelle ermöglichen. "Keineswegs soll DigiSucht die Beratung vor Ort ersetzen", betont Sabine Schneider. "Aber es kann eine sinnvolle Ergänzung sein." Für dieses sogenannte Blended Counseling, also die Kombination digitaler und analoger Kanäle, sei die digitale Plattform ideal.  

So gebe es beispielsweise Klient*innen, die zwischendurch einen Video-Beratungstermin einschieben, etwa weil sie beruflich viel unterwegs, im Urlaub oder wegen Krankheit, eines Handicaps oder Kinderbetreuung verhindert sind. Andere haben keinen Führerschein und könnten – gerade in ländlichen Regionen – die weiten Strecken zur nächsten Beratungsstelle gar nicht schaffen. Die Suchttherapeutin erzählt: "Ich habe eine Frau über drei Monate hinweg einmal wöchentlich digital beraten - das war sehr ergiebig und insgesamt eine sehr erfolgreiche Beratung." Denn viele Methoden, die in der analogen Beratung genutzt werden, könnten auch digital eingesetzt werden. Etwa diagnostische Fragebögen und der sogenannte Notfallkoffer mit individuellen Verhaltensweisen und Maßnahmen, aus dem sich Betroffene im Notfall selbst bedienen können.  

Niederschwelliger Erstkontakt

In den meisten Fällen jedoch diene DigiSucht dem niederschwelligen Erstkontakt, aus dem heraus die Klient*innen dann in die Präsenzberatung wechselten. Projektleiterin Dr. Anne Pauly betont: "Grundsätzlich entscheidet jede Beratungsstelle individuell je nach Ressourcen, wie viel oder wie umfangreich sie über die digitale Plattform berät." 

Und so funktioniert DigiSucht: Auf der Seite www.suchtberatung.digital können sich Interessierte (Betroffene und Angehörige) anonym registrieren, dabei werden Informationen wie Alter, Geschlecht und Art der Problematik abgefragt, außerdem die Postleitzahl. Schließlich geht eine Anfrage an die nächstgelegene Beratungsstelle. "Diese Anfragen werden dann zeitnah beantwortet", berichtet Sabine Schneider. "Die Hilfesuchenden können sich anschließend entscheiden, ob sie sich per Mail oder Live-Chat beraten lassen möchten oder gleich einen Audio- oder Videotermin vereinbaren."

Erschöpfte Frau mit Alkoholproblematik.

Die Onlineberatung  verspricht Menschen mit Suchtproblemen schnelle und unkomplizierte Unterstützung. 

Hilfeleistung statt Wettbewerb 

Ganz bewusst sei DigiSucht so einfach und klar wie möglich gestaltet, betont Dr. Anne Pauly. Der Vorteil: Die Ratsuchenden müssten nicht erst mehrere Anbieter und Webseiten durchsuchen, sondern sie erhielten direkt das, was sie am dringendsten benötigten: kostenfreie, professionelle Suchtberatung. "Die Hilfeleistung steht bei dieser trägerübergreifenden Plattform an erster Stelle und nicht der Wettbewerbsgedanke", so Pauly weiter. "Dieser Ansatz ist meiner Meinung nach neuartig und besonders."  

Nach einem Jahr Modellphase in Plettenberg fällt das Fazit von Sabine Schneider und ihrem Kollegen Frank Horstmann positiv aus. "Na klar, technisch gab es zu Beginn auch mal Schwierigkeiten. Aber mittlerweile funktioniert die Plattform stabil und ohne Probleme, und wir bekommen auf diesem Weg regelmäßig Anfragen", erzählt Sabine Schneider. Dass sich die Suchtberatung Plettenberg an dem Projekt beteiligen würde, sei ihr und ihrem Kollegen schnell klar gewesen. "Grundsätzlich ist es uns wichtig, auch im Bereich der Beratung mit der Zeit zu gehen und unser Angebot an die Gegebenheiten anzupassen", sagt sie. "Die Mehrarbeit in den vergangenen Monaten hat sich für uns auf jeden Fall gelohnt, denn als Modellstandort konnten wir unsere Anregungen einbringen und die Plattform mitgestalten. Wir machen auf jeden Fall weiter." 

Tina Nagel ist Expertin für alle Fragen rund um Sucht bei der Diakonie RWL.

Suchtexpertin Tina Nagel von der Diakonie RWL hält viel davon, digitale und analoge Beratung zu kombinieren.

Mehr Menschen erreichen

Tina Nagel, Suchtexpertin der Diakonie RWL, sieht in der digitalen Suchtberatung eine wertvolle Ergänzung zur "Face-to-Face"-Beratung. "Für viele Suchtberatungsstellen war die Corona-Pandemie der Auslöser, verstärkt auch digitale Angebote zu entwickeln und umzusetzen", sagt sie.  "Die Plattform DigiSucht ist eine logische Fortführung, die für die Kommunikation mit den Klient*innen verschiedene Kanäle zur Verfügung stellt. Digitale und analoge Beratung bewusst zu kombinieren, ist eine sinnvolle Methode, um noch mehr Menschen zu erreichen und ihnen Unterstützung anbieten zu können."  

Dr. Anne Pauly ist Projektkoordinatorin Digitale Suchtberatung für Nordrhein-Westfalen und Leiterin der Geschäftsstelle der Suchtkooperation NRW.

Dr. Anne Pauly ist Projektkoordinatorin Digitale Suchtberatung für Nordrhein-Westfalen und Leiterin der Geschäftsstelle der Suchtkooperation NRW. 

Ziel: landesweit verfügbar

Und das sind die weiteren Pläne für DigiSucht: “Sukzessive sollen immer mehr Suchtberatungsstellen in NRW eingebunden werden”, erklärt Dr. Anne Pauly. Um dieses Verfahren gerecht und transparent zu gestalten, wird das Interesse der entsprechenden Stellen auf einer Warteliste dokumentiert. “Jede Beratungsstelle, die auf die digitale Plattform einsteigt, wird mit der Landeskoordinierungsstelle NRW eine Kooperationsvereinbarung abschließen”, so Pauly weiter. Ziel sei es, eine landesweite Verfügbarkeit von Online-Suchtberatung für Ratsuchende zu garantieren.

Text: Verena Bretz, Fotos: DigiSucht, DW des Evangelischen Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg, Pixabay, Shutterstock, Suchtkooperation NRW 

Weitere Informationen

Aktionstag

Der bundesweite Aktionstag Suchtberatung  informiert über den Stellenwert und die Angebote der Suchtberatungsstellen in Deutschland und findet seit 2020 jährlich am zweiten Donnerstag im November statt. In diesem Jahr ist das der 9. November; der Tag hat das Motto "Wieso? Weshalb? Darum!". Suchtberatungsstellen in ganz Deutschland sind dann eingeladen, sich mit eigenen Aktionen und Veranstaltungen daran zu beteiligen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) plant und koordiniert den Aktionstag Suchtberatung gemeinsam mit ihren Mitgliedsverbänden.