3. August 2023

Legalisierung

"Cannabis ist in allen Schichten angekommen"

Die Bundesregierung bringt derzeit ein Gesetz zur kontrollierten Abgabe von Cannabis auf den Weg. Das Thema wird kontrovers diskutiert. Im Interview erklärt Tina Nagel, Diakonie RWL-Referentin im Geschäftsfeld Krankenhaus und Gesundheit, warum und unter welchen Voraussetzungen die Diakonie die Legalisierung begrüßt.

  • Hände im Handschuh pflücken Cannabis-Pflanze.
  • Getrocknete Cannabisblüten.

Frau Nagel, wie häufig wenden sich Cannabiskonsument*innen an die Beratungsstellen der Diakonie RWL?

Tina Nagel: Cannabiskonsument*innen sind eine der Hauptgruppen der Beratungsarbeit, wie mir unsere Mitgliedseinrichtungen immer wieder bestätigen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) hat in ihrem Jahrbuch 2023 ausgearbeitet, dass nach aktuellen Schätzungen circa 481.000 Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren sowie 17,8 Millionen Erwachsene zumindest einmal in ihrem Leben Cannabis konsumiert haben. Cannabis ist längst in allen gesellschaftlichen Schichten angekommen. In der täglichen Arbeit haben unsere Berater*innen es häufig nicht mehr mit Menschen zu tun, die nur eine Substanz konsumieren. Da wird dann zum Beispiel Alkohol und Cannabis konsumiert oder erst Kokain zum Aufputschen und dann Cannabis, um wieder runterzukommen.

Die Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken kann aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden: aus dem der Suchtkrankenhilfe und dem der Straffälligenhilfe. Wie unterscheiden sich beide Sichtweisen?

Nagel: Die beiden unterscheiden sich nicht wirklich. Straffälligenhilfe hat allerdings einen zeitlich versetzten Ansatzpunkt oder Blickwinkel, da "das Kind häufig schon in den Brunnen gefallen ist". Das Thema Kriminalisierung spielt in der Suchtberatung, -prävention und -behandlung von Cannabiskonsument*innen aktuell eine große Rolle. Etwa weil sich Biografien von Konsument*innen illegaler Substanzen teilweise massiv von den Biografien von Konsument*innen legaler Substanzen unterscheiden und nicht selten von langen Haftzeiten geprägt sind. 

Cannabis-Pflanze auf einem Feld.

Entkriminalisierung als Chance: Werden Konsumierende nicht mehr stigmatisiert, suchen sie sich schneller Hilfe, wenn ihr Drogengebrauch zum Problem wird.

Wie blickt die Suchthilfe auch die aktuelle Diskussion um die Legalisierung?

Nagel: Bisher haben vergangene restriktive Maßnahmen keinen Erfolg gezeigt und ein Umdenken bietet nun eine große Chance. Die Diakonie RWL begrüßt eine Entkriminalisierung, die hoffentlich auch zu einer Entstigmatisierung von Konsument*innen führt. Allerdings muss sie unter bestimmten Bedingungen erfolgen. Zu dem ursprünglichen Eckpunktepapier gibt es eine Positionierung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS).

Welche gesetzgeberischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind Ihrer Meinung nach nötig, damit die Cannabis-Freigabe nicht vielen Menschen – besonders den Jugendlichen – zum Verhängnis wird?

Nagel: Wenn ich mir das wünschen könnte, würde ich eine ganze Menge an den Rahmenbedingungen verändern. Die Suchtprävention und -beratung muss ausgebaut und wirklich ausreichend finanziert sein. Vor allem Kinder und Jugendliche müssen über Cannabis und auch die Risiken des Konsums aufgeklärt werden. Die Abgabe von Cannabis muss im Kinder- und Jugendschutz mitbedacht werden. Das Nichtraucherschutzgesetz muss ausgebaut werden, um eine gute Prävention und Erstintervention bei möglichen psychischen Problemen anbieten zu können. Es werden jetzt schon mehr Plätze bei Psychotherapeut*innen benötigt als vorhanden sind.
 
Außerdem muss es klare Vergaberegeln geben, die sich an Empfehlungen von Expert*innen orientieren. Die gesamte Umsetzung einer Entkriminalisierung und Abgabe zu Genusszwecken muss wissenschaftlich gut begleitet werden und es sollte darüber hinaus eine wirklich kontrollierte Abgabe sein, die nicht der freien Marktwirtschaft unterliegt. Es muss auch jederzeit die Möglichkeit geben, neue Entwicklungen mitzudenken und gegebenenfalls nachzubessern.

Ich wünsche mir zudem ein gesellschaftliches Umdenken hin zu weniger Stigmatisierung von Konsument*innen, damit diese sich weniger schämen, wenn sie Hilfsangebote nötig haben und nutzen. Dazu müssen auch die Angebote der Suchtberatung und -prävention in den Kommunen besser sichtbar werden.

Diakonie RWL-Referentin Tina Nagel

Diakonie RWL-Expertin Tina Nagel fordert in der Diskussion um die Cannabis-Legalisierung, die Suchtprävention und -beratung auszubauen und gut zu finanzieren. 

Eine mögliche Legalisierung kann demnach nur mit einem Ausbau der Prävention einhergehen. Wie kann das gelingen?

Nagel: Die Leistungen, die benötigt und erwartet werden, müssen angemessen finanziert sein. Das ist schon jetzt nicht der Fall. Hinzu kommt das Problem des Fachkräftemangels. Es ist deshalb umso wichtiger, dass bestehende Angebote bekannt sind und das kommunale Suchthilfesystem gut vernetzt ist, vor allem mit den dann entstehenden Cannabis-Social-Clubs. Die Zugangswege müssen niedrigschwellig sein und Prävention muss breit und gesamtgesellschaftlich gedacht werden. Darüber hinaus sollte das "Drug Checking" ausgebaut werden – also die Möglichkeit, Substanzen auf mögliche giftige Inhaltsstoffe zu überprüfen. In Berlin ist das bereits jetzt an drei Standorten möglich.

Das Interview führte Caro Scholz. Fotos: Pixabay, Diakonie RWL

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