2. Dezember 2021

Debatte um Impfpflicht

"Kliniken haben eine Schutzpflicht"

Mehr Tempo beim Impfen, eine Impfpflicht für Kliniken und Pflegeheime noch vor Weihnachten und eine allgemeine Impfpflicht bis Anfang Februar: Darauf könnten sich Bund und Länder heute zur Eindämmung der Pandemie einigen. Denn ein Kollaps des Gesundheitssystems muss unbedingt verhindert werden. Zu Recht, meint Diakonie RWL-Klinikexpertin Elke Grothe-Kühn in unserer #ärmelhoch-Reihe. 

  • Zwei Mediziner auf einer Intensivstation
  • Diakonie RWL-Gesundheitsexpertin Elke Grothe-Kühn mit Impfstatement
  • Eine Pflegekraft zieht eine Impfspritze auf

Noch im Dezember soll der Bundestag über eine Corona-Impfpflicht für Beschäftigte in Einrichtungen mit besonders gefährdeten Menschen beraten. Nur wenige Wochen später könnte das Parlament auch eine Impfpflicht für alle auf den Weg bringen. Wie ist die Haltung dazu in den evangelischen Kliniken?

Über eine Impfpflicht ist kontrovers diskutiert worden. Doch die Situation in den deutschen Kliniken spitzt sich zu. Rund 4.700 Covid-Patienten liegen derzeit auf Intensivstationen, der Großteil ist nicht geimpft. In den vergangenen drei Tagen allein starben durchschnittlich mehr als 400 Menschen täglich. Gegen ganz schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle schützt nur eine Impfung. Insofern gibt es keine andere Alternative. Die Kliniken haben ebenso wie Alten- und Pflegeheime eine Schutzpflicht für verletzliche Gruppen, und es sollte zum Berufsethos gehören, Verantwortung dafür zu übernehmen. Das sehe nicht nur ich so, sondern auch viele unserer Kliniken. Die Impfpflicht sollte auf den Weg gebracht werden und zwar möglichst für alle. Doch leider wird sie eher in einer fünften Welle Wirkung zeigen als in der vierten Welle, die wir gerade erleben.

Wie ist die Situation in den Kliniken in unserem Verbandsgebiet?

Aus unseren evangelischen Kliniken höre ich noch nicht, dass Intensivstationen mit Covid-19-Patientinnen und Patienten überlastet sind. Aber auch in NRW müssen Krankenwagen teilweise mehrere Kliniken anfahren, um einen Intensivplatz zu finden. Denn auch hier steigt die Zahl der Covid-19-Patientinnen und Patienten, zumal die Kliniken zunehmend erkrankte Menschen aus Sachsen, Bayern oder Baden-Württemberg aufnehmen. Planbare Operationen werden schon in mehr als drei Viertel der Krankenhäuser verschoben. Das betrifft vor allem Operationen mit anschließender Intensivbehandlung. 

Gibt es schon die Sorge, dass die Intensivbetten nicht ausreichen werden?

Das Problem sind nicht in erster Linie die Intensivbetten. Im internationalen Vergleich sind wir da gut aufgestellt. Wir brauchen deutlich mehr Pflegepersonal auf den Intensivstationen, insbesondere, wenn Corona-Patienten versorgt werden müssen. Eine Pflegekraft reicht da nicht für zwei Intensivpatienten. Und wenn die Intensivstationen aufgrund des erhöhten Pflegebedarfs voll sind, melden sie sich für die Notfallversorgung ab. Das bedeutet, wenn Menschen mit Schlaganfall oder Herzinfarkt kommen, müssen sie in die nächste Klinik gebracht werden, die noch freie Kapazitäten hat. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, hat bereits davor gewarnt, dass mehr Menschen in dieser Notfallsituation sterben werden, als dies normalerweise der Fall ist, und mehr Menschen lebenslang schwere Folgeschäden zum Beispiel bei einem Schlaganfall davontragen, als dies bei einer schnellen Therapie sein müsste.

Eine erschöpfte Pflegekraft sitzt im Flur einer Klinik auf dem Boden.

Viele Pflegekräfte sind völlig erschöpft und haben deshalb Stunden reduziert oder gekündigt. 

Woran liegt es denn, dass so viel Personal fehlt?

Seit mehr als 20 Jahren haben wir in weiten Teilen des Pflegedienstes eine Unterbesetzung, was auch mit unserem komplizierten Finanzierungssystem zusammenhängt. Verkürzt gesagt, wurden Krankenhäuser, die eine überdurchschnittlich gute Personalbesetzung vorhielten, vom Finanzierungssystem mit Verlusten bestraft. Deshalb haben viele Kliniken in der Vergangenheit Pflegepersonal abgebaut. Hinzu kommt, dass die Arbeit auf einer Intensivstation sehr anspruchsvoll ist und dafür eine zweijährige hochspezialisierte Weiterbildung erforderlich ist. Das bedeutet, sie können nicht einfach Personal aus anderen Abteilungen dorthin abziehen. Alle Pflegekräfte haben in der Pandemie enorm viel geleistet und viele sind an den Rand der Erschöpfung gekommen, haben deshalb Stunden reduziert oder den Job ganz gekündigt.

Was hätte die Bundesregierung tun können, um bei der absehbaren vierten Coronawelle das Problem des Personalmangels zu lösen?

Das lässt sich leider nicht so schnell lösen. Daher ist es ja so wichtig, dass wir jetzt ganz viel unternehmen, damit die Intensivstationen nicht weiter überlastet werden und noch mehr Menschen sterben. Eine Impfpflicht ist ein wichtiges Signal, aber die Krankenhäuser müssen auch mehr Tests in den Kliniken durchführen und ihre Mitarbeitenden schnell boostern,  um den Impfschutz aufrecht zu erhalten. Die Lungenklinik Hemer zum Beispiel schafft dafür Anreize mit einer Tombola, bei der es E-Bikes oder zusätzliche Urlaubstage zu gewinnen gibt. Aus Sicht vieler Intensivmediziner sind jetzt leider auch wieder Kontaktbeschränkungen dringend geboten.

Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz fordert, dass noch vor Weihnachten rund 30 Millionen Impfungen durchgeführt werden. Welche Rolle können die Kliniken dabei spielen?

Ich finde es gut, dass jetzt Tempo beim Impfen gemacht wird. Aber dafür muss schnell genug Impfstoff organisiert werden und es muss mehr Impfstationen geben. Die evangelischen Kliniken können sich meiner Ansicht nach gut daran beteiligen, denn sie befinden sich an Standorten, die die Menschen kennen. Dort könnten auch Mitarbeitende der Klinikapotheke oder niedergelassene Ärzte für das Impfen einbezogen werden. Ärzte des Klinikums Jung-Stilling der Diakonie in Südwestfalen bieten jetzt sogar außerhalb ihres Krankhauses Impfungen ohne Voranmeldung in Kirchen, Gemeindezentren und anderen kirchlichen Einrichtungen an.

Das Gespräch führte Sabine Damaschke. Fotos: Shutterstock, Unsplash

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Auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat sich für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Obwohl NRW zu den führenden Ländern bei der Impfquote gehöre, seien noch 1,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger über 12 Jahren komplett ohne Immunisierung, sagte er auf der Landeskabinettssitzung am 1. Dezember.  In NRW haben sich über 100.000 Menschen mit dem Corona-Virus infiziert, 705 liegen aktuell auf einer Intensivstation. Damit sind 13 Prozent der Intensivbetten im Land mit Corona-Patienten belegt.