Beratung für Angehörige Suchterkrankter
Wie alt sie gewesen ist, weiß Andrea Klatter (Name geändert) nicht mehr sicher. An die Situation kann sie sich aber noch genau erinnern. "Ich wollte mir eine Limo holen, und dann stand da im Küchenschrank ein volles Glas Bier." Merkwürdig fand das junge Mädchen das damals. Was es bedeutete, wusste sie nicht. Heute weiß sie es – ihre Mutter war alkoholsüchtig, und sie ist es heute, 40 Jahre später, immer noch.
Es ist einiges passiert in diesen 40 Jahren. Immer wieder gab es Streit in der Familie Klatter. "Meine Mutter hat mich nicht lernen lassen, teilweise stundenlang gegen meine Tür gepoltert. Ich kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe, bin dann deswegen sogar durchs Abitur gefallen." Aber niemand sagte etwas, die Lehrer nicht, die Verwandtschaft nicht, die Menschen im Haus nicht. Erst im Nachhinein sei sie mal von Nachbarn angesprochen worden, erzählt Andrea Klatter: "Und, trinkt deine Mutter noch?" "Mit meinen 18, 19 Jahren habe ich das gar nicht verstanden, warum sich meine Mutter so benimmt."
Überfordert mit der Elternrolle
Mit 20 Jahren zog sie zu ihrem heutigen Mann. Den Kontakt zu den Eltern hat sie nie abgebrochen, hat jeden Tag angerufen, sie jede Woche gesehen – und ist immer wieder eingesprungen, wenn es Probleme gab. "Das geht vielen Kindern suchtkranker Eltern so", bestätigt Denise Schalow, Leiterin der Fachambulanz für Menschen mit Suchterkrankungen der Diakonie Düsseldorf. "Manche haben schon in sehr jungen Jahren ein hohes Maß an Verantwortung für den suchtkranken Elternteil übernommen und sind in die Elternrolle gedrängt worden."
Die Bierflasche als ständiger Begleiter - So kannte Andrea Klatter ihre Mutter. (Foto: pixabay)
Die Mitarbeitenden der Fachambulanz beraten Menschen, die süchtig nach Alkohol, Medikamenten, Drogen oder Glücksspiel sind – und sie beraten die Angehörigen, rund 200 im Jahr. Die Fachambulanz ist eine von insgesamt rund 170 Suchtberatungsstellen in NRW, die pro Jahr über 80.000 Menschen betreuen. In der Corona-Pandemie hat ihre Zahl zugenommen, denn viele Angehörige machen sich Sorgen um den gestiegenen Alkoholkonsum ihrer Eltern, Partner oder Kinder. Auf die wichtige Arbeit der Suchtberatungsstellen macht morgen erstmals ein bundesweiter Aktionstag aufmerksam, an dem sich auch Stellen der Diakonie beteiligen.
Hilfe auch für Angehörige
"Viele wissen nicht, dass sie sich bei uns auch ganz unabhängig vom Betroffenen beraten lassen können, weil sie oft erst einmal davon ausgehen, dass sie selbst ja nicht krank seien und kein Problem haben", sagt Denise Schalow.
Dass sie selbst kein Problem hat, dachte auch Andrea Klatter lange. Sie kümmerte sich viele Jahre um ihre Eltern, damit ihre Mutter nicht verwahrlost. Diese war inzwischen am Korsakow-Syndrom erkrankt, das unter anderem Gedächtnisstörungen hervorruft. Andrea Klatter arbeitete dazu Vollzeit und zog ihre Tochter groß. Sie versuchte, alles zu stemmen. "Aber der Schuss ist nach hinten losgegangen. Ich hatte einen richtigen Burn-out, Schlafstörungen, keine Lust mehr rauszugehen." Sie machte eine Therapie – und die Therapeutin riet ihr, sich Hilfe bei der Diakonie zu holen.
Die eigene Belastung erkennen und aus dem Teufelskreis der Überforderung herauskommen - Das lernen Angehörige Suchterkrankter in Gruppen- und Einzeltherapien der Fachambulanz der Diakonie Düsseldorf.
Zu viele Bälle gleichzeitig
"Viele Angehörige kommen bei uns erstmals auf die Idee, auch mal über sich selbst, das eigene Leid und die eigene Belastung nachzudenken und zu reflektieren, denn oft ging es bis dahin jahrelang nur um den Suchtkranken und darum, was dieser braucht oder wie und wann dieser sich helfen lässt", erklärt Denise Schalow. "Oft sind die Angehörigen dabei besonders fleißig geworden. Sie arbeiten in ihren Berufen hart und übernehmen auch zu Hause sukzessive mehr und mehr Verantwortung, wenn der Betroffene nach und nach zu immer weniger in der Lage ist. Sie wirken oft wie jemand, der mit viel zu vielen Bällen viel zu lange jongliert, und dabei staunen wir oft, wie lange dies vermeintlich gut gegangen ist."
Wie viel Unterstützung die Angehörigen dann brauchen, sei unterschiedlich, betont Denise Schalow. Manchmal sei es nur ein Gespräch, manchmal eine lange Beratungsphase und nicht selten danach auch noch weiterführende Therapien. Auch Selbsthilfegruppen können sinnvolle Unterstützung bieten.
Sich selbst in den Blick nehmen
Andrea Klatter zum Beispiel ging Anfang 2020 in eine Reha. "Und das hat wirklich viel gebracht", sagt sie. "Mir wurde wieder beigebracht, an mich zu denken. Meine Mutter kann ich nicht mehr retten, die ist verloren. Aber mich kann ich noch retten." Aus der Krankheit ihrer Mutter macht sie jetzt kein Geheimnis mehr. Freunde wissen Bescheid, zwei Kollegen, ihr Chef.
"Ab einem bestimmten Punkt können es Angehörige auch alleine schaffen", sagt Denise Schalow. "Weil sie sich in der Beziehung besser distanzieren können, weil der Betroffene etwas verändert, eine Behandlung anstrebt, oder weil derjenige eine individuelle Lösung dazwischen für sich findet." Eine individuelle Lösung hat auch Andrea Klatter für sich gefunden – sie ist weiter für ihre Mutter da, ohne sich selbst zu vergessen. Wut empfindet sie jedenfalls nach all den Jahren nicht. "Meine Mutter ist jetzt so ein armes Wesen, einfach nur noch eine Hülle. Ich habe keinen Hass auf sie, ich habe Mitleid."
Text: Diakonie Düsseldorf/ Christoph Wand; Fotos: Shutterstock und Pixabay.
Der Artikel stammt aus dem Magazin der Diakonie Düsseldorf, Dialog 03.
Diakonie RWL-Reportage über Selbsthilfegruppe für Angehörige Suchterkrankter in Dorsten
Diakonie RWL zu Suchterkrankungen in der Corona-Pandemie
Diakonie RWL-Pressemitteilung zum Aktionstag
Infos zum bundesweiten Aktionstag "Suchtberatung: Kommunal wertvoll"
Krankenhaus und Gesundheit
Unter dem Motto "Suchtberatung: Kommunal wertvoll" ruft die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen erstmals zu dem bundesweiten Aktionstag am 4. November auf. Er soll auf die Dringlichkeit der Weiterfinanzierung und die Zukunftssicherung der deutschlandweit 1.500 ambulanten Suchtberatungsstellen aufmerksam machen. Der Aktionstag steht unter der Schirmherrschaft der Drogenbeauftragten der Bundesregierung.
Knapp die Hälfte der über 170 Sucht- und Drogenberatungsstellen in NRW werden von der Diakonie getragen. Mehr als vier Millionen Menschen gelten als suchtkrank. Die Diakonie RWL befürchtet, dass die erneuten starken Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie wie im Frühjahr wieder zu steigendem Alkoholkonsum und -missbrauch führen. "Umso wichtiger ist jetzt eine gute Beratung, die Menschen mit Suchtproblemen und ihren Angehörigen hilft, mit den sozialen Einschränkungen umzugehen", betont Diakonie RWL-Vorstand Thomas Oelkers in einer Pressemitteilung.