Kinderschutzambulanz
Die beiden Kinder waren aufgefallen, weil sie von ihren Eltern ganz offensichtlich vernachlässigt wurden. Das Jugendamt schickte die Familie mit den vier- und elfjährigen Geschwistern deshalb zur Kinderschutzambulanz der Evangelischen Jugendhilfe Iserlohn-Hagen, die zur Diakonie Mark-Ruhr gehört. Dort begann das Team mit der Diagnose und machte dabei eine überraschende Entdeckung: Die beiden Kinder litten nicht nur darunter, dass die Eltern sie unzureichend mit Kleidung und Nahrung versorgten.
"Es hat sich sehr schnell herausgestellt, dass der Fall in eine ganz andere Richtung geht", berichtet der Leiter der Kinderschutzambulanz, Reiner Rohrhirsch. "Es offenbarte sich massiver sexueller Missbrauch und Kinderpornografie." Das Jugendamt nahm die beiden Kinder noch während des Diagnose-Verfahrens in Obhut.
Nicht überrascht von Missbrauchsfällen wie Münster und Lügde
"Wir begleiten hier immer wieder Fälle, in denen Hinweise auf sexuellen Missbrauch jahrelang übersehen worden sind", sagt Rohrhirsch. "Weder Münster noch Lügde überrascht uns deshalb, wenngleich die Dimension der Fälle außergewöhnlich ist." Von den Kindern, die in den vergangenen zehn Jahren in die Kinderschutzambulanz in Hagen kamen, wurden knapp 45 Prozent mit dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch angemeldet. Es komme allerdings auch oft vor, dass die Vermutungen sich nicht bestätigten, sagt Rohrhirsch. Das sei vor allem bei Trennungskonflikten der Fall, wenn ein Elternteil dem anderen vorwerfe, das gemeinsame Kind zu missbrauchen oder zu misshandeln.
Viel Zeit und Geduld nötig
Auch in der Kinderschutzambulanz des Evangelischen Krankenhauses Düsseldorf erweisen sich die meisten Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch als Fehlalarm. Mit dieser Vermutung kamen laut Arbeitsbericht 2019 ein Drittel der 263 Kinder in die Ambulanz. Nur in zehn Prozent der Fälle habe sich das bestätigt. Allerdings blieben in 16,5 Prozent der Fälle Zweifel, weil es nicht möglich war, eine abschließende Diagnose zu stellen.
Das komme beispielsweise vor, wenn ein Kind aufgrund seines Alters oder Entwicklungsstandes noch nicht über ausreichende sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten verfüge, erklärt die Ärztliche Leiterin Gabriele Komesker. "Für alle Beteiligten ist es nicht leicht, mit einem offenen Ergebnis umzugehen. Wir empfehlen dann oft eine Nachdiagnostik." Um zu verstehen, was ein Kind wirklich erlebt hat, brauche es oft viel Zeit und Geduld, weiß Komesker. In wenigen Einzelfällen könne eine Diagnostik auch einmal bis zu 18 Monaten dauern.
Vater, Mutter, Kinder - und ein Drachen: Mit Figuren können die Kinder in der Ambulanz der Jugendhilfe spielerisch auf die Konflikte zu Hause eingehen.
Auch bei psychischer Gewalt zuständig
"Wir leisten grundsätzlich zunächst Vertrauensarbeit", sagt Reiner Rohrhirsch. "Sowohl zu den Eltern, um sie zur Mitarbeit zu motivieren, aber vor allem zu den Kindern, damit sie sich in sicherem Rahmen anvertrauen können." In der Regel beginnt die Arbeit mit einem Erstgespräch mit den Eltern und Vertretern des Jugendamtes. Denn die meisten Kinder werden vom Jugendamt geschickt. Nicht immer steht die Frage nach sexuellem Missbrauch im Raum. Ebenso oft geht es um häusliche Gewalt. Nicht nur die Erfahrung, selbst geschlagen zu werden, sei für Kinder schlimm, sagt Komesker. Auch wenn sie mitansehen müssten, wie etwa die Mutter verprügelt werde, hinterlasse das seelische Wunden. Nicht zuletzt sind die Kinderschutzambulanzen auch regionale Ansprechpartner beim Verdacht auf psychische Gewalt oder Verwahrlosung.
Im Anschluss an das Elterngespräch werden eine Reihe von Terminen vereinbart, bei denen die Therapeuten alleine mit dem Kind arbeiten. "Wir versuchen zusammen mit dem Kind herauszufinden, wie seine Sicht des Erlebten ist, wie es ihm geht und was es nun braucht", erklärt Komesker. Dabei wird je nach Alter mit den Kindern gespielt. Um herauszufinden, ob ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat, können etwa Körperumrisszeichnungen eingesetzt werden. Die Therapeuten bringen im Spiel auch bestimmte Themen ins Gespräch oder fragen nach dem Alltag der Kinder. Teilweise wird auch mit Fragebögen gearbeitet, in denen die Kinder zum Beispiel Sätze vollenden wie: "Ich mag meinen Vater, weil…"
Wenn Familien auseinanderbrechen, gibt es Partner, die dem anderen Elternteil Vernachlässigung oder Misshandlung vorwerfen.
Im Zentrum von Trennungskonflikten
Sehr häufig haben die Kinderschutzambulanzen mit Trennungskonflikten zu tun, bei denen ein Elternteil dem anderen vorwirft, das Kind zu vernachlässigen oder zu misshandeln. In solchen Fällen werden unter anderem Spielstunden mit den Vätern oder Müttern vereinbart, die sich dann alleine mit dem Kind in einem Raum beschäftigen. Dabei werden sie gefilmt. "Wir können dann sehen, wie gut die Kontaktqualität zwischen dem Kind und dem Elternteil wirklich ist", sagt Rohrhirsch. An der Reaktion der Kinder sei etwa sehr gut abzulesen, ob das gemeinsame Spiel für sie eine gewohnte Situation sei.
Die Kinderschutzambulanzen sind in erster Linie Experten für die Diagnostik. Sie finden also heraus, wo das Problem liegt und was das Kind braucht. In der Regel empfehlen sie dann in einem Abschlussgespräch mit allen Beteiligten die Weiterbehandlung in einer kinderpsychiatrischen oder -psychotherapeutischen Praxis oder sie leiten an Beratungsstellen weiter. Die Kinderschutzambulanz in Hagen kann im Bedarfsfall an eigene Einrichtungen der Evangelischen Jugendhilfe Iserlohn-Hagen weitervermitteln wie zum Beispiel Wohngruppen für Jugendliche oder etwa ambulante Familienhilfen.
Bei einem Drittel der Kinder, die in die Kinderschutzambulanz des Ev. Klinikums Düsseldorf kommen, bestätigt sich der Verdacht des sexuellen Missbrauchs, sagt die Ärztliche Leiterin, Dr. Gabriele Komesker.
Missbrauch wird schneller gemeldet
In der Düsseldorfer Kinderschutzambulanz nehme in jüngster Zeit auch die Zahl der Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch wieder zu, sagt Komesker. "Das scheint damit zusammenzuhängen, dass die Gesellschaft insgesamt sensibler auf das Thema reagiert." Auch Rohrhirsch beobachtet, dass inzwischen Erzieherinnen in Kitas, Lehrer, Kinderärztinnen oder auch Nachbarn aufmerksamer sind und Gewalt an Kindern schneller melden.
Zugleich hätten Pädophile aber durch das Internet auch neue Möglichkeiten bekommen, sich zu vernetzen. Angesichts dieser Situation gebe es in Deutschland zu wenig Kinderschutzambulanzen. "Das ist sicherlich ein Grund dafür, dass dann Fälle wie in Münster oder Lügde manchmal lange übersehen werden." Denn die Kinderschutzambulanzen leisteten durch ihre Vernetzung mit anderen Einrichtungen am Ort und als Beratungsstelle einen wichtigen Beitrag für Prävention und Aufdeckung von Missbrauch.
Zurück ins Leben finden: Kinder, die missbraucht wurden, aber in einer stabilen und liebevollen Familie aufwachsen, haben gute Chancen das Erlebte zu verarbeiten.
Den Missbrauch verarbeiten
Ist es für Opfer schweren Missbrauchs überhaupt möglich, ihre schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten? Die Erfahrungen seien sehr unterschiedlich, sagt Rohrhirsch. Je näher sich Täter und Opfer stünden, desto schwieriger sei es für das Kind, mit dem Missbrauch fertig zu werden. "Manchmal gelingt es auch gar nicht." Am stärksten betroffen seien Kinder, die von den eigenen Eltern missbraucht wurden.
Vergleichsweise gute Aussichten, das Erlebte trotz seelischer Narben in ihr Leben zu integrieren, bestünden hingegen in der Regel für Kinder, die Missbrauch erlebt haben, aber in einer stabilen und liebevollen Familie lebten, sagt Komesker. Immer wieder gebe es auch ermutigende Beispiele von Kindern, denen nach der Diagnostik in der Kinderschutzambulanz geholfen werden konnte. "Bei uns melden sich hin und wieder einmal Erwachsene, die als Kind bei uns waren und nun berichten, dass sie sich ein eigenes Leben mit Familie aufgebaut haben", sagt Komesker. Auffällig sei, dass viele dieser früheren Opfer nun selbst in einem sozialen Beruf arbeiten und anderen helfen.
Text: Claudia Rometsch, Fotos: Evangelisches Klinikum Düsseldorf, Diakonie Mark-Ruhr und Shutterstock.
Kinderschutzambulanz des Evangelischen Klinikums Düsseldorf
Kinder und Kitas
Kinderschutzambulanzen
Kinder und Jugendliche, die körperlicher, seelischer oder sexueller Gewalt ausgesetzt sind, finden Hilfe in Kinderschutzambulanzen. Die Ambulanz am Evangelischen Klinikum Düsseldorf existiert seit 32 Jahren und hat seitdem mehr als 10.000 Kindern geholfen.
Die Kinderschutzambulanz der Evangelischen Jugendhilfe Iserlohn-Hagen gGmbH gehört zur Diakonie Mark-Ruhr. Sie ist ein wichtiger Akteur in den Regionen des Märkischen Kreises, der Stadt Hagen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis. Seit zehn Jahren arbeitet die Facheinrichtung in der Diagnostik bei Gewalterleben von Kindern und Jugendlichen.