Bildung
Erschöpfung und Anspannung beim Personal, Verzweiflung und Frustration bei den Eltern. "Die physischen und psychischen Belastungsgrenzen sind überschritten. Anspruchsvolle Erwartungen an die Kindertagesbetreuung sind derzeit nicht umzusetzen." Dieses düstere Fazit zieht Kathrin Bock-Famulla, Expertin für frühkindliche Bildung der Bertelsmann Stiftung.
Die Diplom-Pädagogin war als Rednerin zu Gast in Düsseldorf bei der Delegiertenversammlung des Fachverbands der evangelischen Tageseinrichtungen für Kinder in Rheinland, Westfalen und Lippe und hat dort über die Folgen des Fachkräftemangels in Kitas gesprochen. Das System sei vielfach überfordert, so Bock-Famulla. In vielen Einrichtungen gelte es, die Aufsichtspflicht sicherzustellen und irgendwie klarzukommen. Bildungsangebote seien in vielen Einrichtungen nur noch eingeschränkt möglich. "Wir stehen nicht kurz vor dem Kollaps, wir sind mittendrin."
In den Kitas in Nordrhein-Westfalen gibt es – gemessen am Betreuungsbedarf – viel zu wenig Plätze. Experten sagen: "Der Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung kann 2023 nicht für alle Kinder erfüllt werden."
Zu wenig Plätze
Dabei mangelt es nicht allein an Personal. Es gibt – gemessen am Betreuungsbedarf – auch viel zu wenig Plätze. "Der Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung kann 2023 nicht für alle Kinder erfüllt werden", stellt sie fest. Trotz des Kita-Ausbaus in den vergangenen Jahren fehlten allein in Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr mehr als 100.000 Plätze. Das zeigt das Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme der Bertelsmann Stiftung. Um die Nachfrage nach Kita-Plätzen zu decken, müssten zusätzlich zum vorhandenen Personal weitere 24.400 Fachkräfte eingestellt werden. Das bedeute rund 1,1 Milliarden Euro zusätzliche Personalkosten. Hinzu kämen Betriebs- und mögliche Baukosten für neue Kitas.
"Künftig werden noch mehr Kinder noch früher in Einrichtungen kommen, deshalb muss massiv investiert werden", fordert auch Bernhard Kalicki, Professor am Deutschen Jugendinstitut, der ebenfalls vor der Delegiertenversammlung sprach. "Spätestens in der Pandemie wurde allen vor Augen geführt, welche Relevanz die Kindertagesbetreuung hat. Deshalb ist jetzt die Chance, diese Investitionen auch einzufordern. Das Geld ist da, die Mittel müssen nur umverteilt werden." Wie aber können die Kitas neue Fachkräfte gewinnen – und auch halten?
Um den Personalmangel wenigstens kurzfristig zu beheben, könnte beispielsweise auch anderes Personal eingestellt werden.
Beruf attraktiver machen
Eine pragmatische Lösung sei es, kurzfristig auch anderes Personal einzustellen – auch Studierende oder Quereinsteiger. Grundsätzlich sieht Kalicki die Öffnung des Berufs für nicht Qualifizierte aber eher skeptisch: "Der Einsatz von nicht einschlägig qualifiziertem Personal mindert die Attraktivität des Berufs für Qualifizierte", betont der Wissenschaftler. Deshalb dürfe man selbst in der jetzigen Lage die langfristige Lösung nicht aus dem Blick verlieren: "Die Steigerung der Attraktivität des Berufs."
Ein angemessenes Gehalt sei dabei nur einer der Gründe, warum sich junge Menschen für eine Erzieher*innen-Ausbildung oder Fachkräfte für den Einsatz in einer Kita entscheiden. "Wer in diesem Bereich arbeitet, bringt meist eine hohe intrinsische Motivation mit", beschreibt es Kathrin Bock-Famulla. "Das ist ein kostbares Gut, mit dem wir sorgsam umgehen sollten." In der Realität sei es aber leider häufig so, "dass das Kita-Personal durchgängig frustriert wird". Sei es durch ständige Überlastung, geringe Karriereperspektiven, allgemein schlechte Arbeitsbedingungen oder nicht pädagogische Aufgaben wie Verwaltungsarbeit oder Küchendienste.
"Aufgrund des Personalmangels müssen Leitungen ständig in den Gruppen einspringen", beschreibt sie den Alltag in zahlreichen Einrichtungen. "Die Mitarbeitenden können sich oft nicht auf ihre originäre pädagogische Aufgabe konzentrieren und finden sich in einem permanenten Spannungsverhältnis von Ressourcenknappheit und dem eigenen Professionalitätsanspruch wieder."
Kathrin Bock-Famulla, Diplom-Pädagogin und Expertin für frühkindliche Bildung der Bertelsmann Stiftung, war als Rednerin zu Gast in Düsseldorf bei der Delegiertenversammlung des Fachverbands der evangelischen Tageseinrichtungen für Kinder in Rheinland, Westfalen und Lippe.
Gestiegene Ansprüche
Demgegenüber stünden die gestiegenen Erwartungen an die frühkindliche Bildung. Kitas sollen beispielsweise Orte sein, an denen die Ungleichheit der Bildungschancen gemindert und präventive Sozialarbeit geleistet wird. Außerdem sollen sie Eltern die Möglichkeit bieten, Familie und Beruf miteinander vereinbaren und damit weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu können. Von Kitas wird auch erwartet, dass Eltern dort Beratung und Gelegenheit zum Austausch finden. Und vor allen Dingen sollen Kitas einen Erziehungs- und Bildungsauftrag erfüllen. "Bei all diesen Ansprüchen verlieren wir leider viel zu häufig die Kinder aus dem Blick, die ein Recht auf Bildung und Wohlbefinden haben", warnt Bock-Famulla. Auch sie litten unter dem Fachkräftemangel: "Wenn das Personal ständig wechselt und es keine Beständigkeit gibt, können Unsicherheit, Angst und Stress die Folge sein."
Aufgrund des Personalmangels müssen in einigen Kitas Betreuungszeiten beschränkt oder sogar Gruppen ganz geschlossen werden.
"Weiter so!" ist keine Option
Der Personalmangel wird in den nächsten Jahren nicht zu bewältigen sein, da sind sich Experten sicher. Wie aber kann den Kindern dennoch eine professionelle Betreuung geboten werden? Die vordringliche Frage in der jetzigen Situation sei, so Bock-Famulla: "Was können Kitas wirklich noch leisten?" Möglicherweise müssten Betreuungszeiten beschränkt oder sogar Gruppen ganz geschlossen werden. Außerdem sollten sich die Fachkräfte genau überlegen, welche Aufgaben und Funktionen verzichtbar seien oder zumindest eingeschränkt werden könnten.
Auf jeden Fall sei ein "Weiter so!" keine Option. Auch isolierte Maßnahmen würden auf Dauer nicht helfen. "Dafür ist das Problem zu komplex", so Bock-Famulla. "Unser Ziel muss eine nachhaltige, zukunftsorientierte Personalpolitik sein. Dafür braucht es ein Gesamtkonzept, das Politik und Verwaltung gemeinsam mit den Beschäftigten erstellen müssen. Das Kita-Personal muss mit seiner Expertise am politischen Entscheidungsprozess beteiligt werden."
"Eine große Herausforderung wird darin liegen, auch im Krisenmodus das erforderliche Maß an Qualität zu sichern, das die Jüngsten in unserer Gesellschaft unbedingt für ihr Aufwachsen und ihre Entwicklung brauchen", sagt Diakonie RWL-Expertin Sabine Prott.
Grenzen des Machbaren erreicht
Sabine Prott, Geschäftsfeldleitung Tageseinrichtungen für Kinder bei der Diakonie RWL, in deren Verbandsgebiet es 1.843 evangelische Kitas gibt, beschreibt ähnliche Probleme: "Auch wir nehmen wahr, dass die Situation in vielen evangelischen Kindertageseinrichtungen in unserem Zuständigkeitsbereich aufgrund des Fachkräftemangels sehr angespannt ist. Das System der Kindertageseinrichtungen ist ohnehin aufgrund der Corona-Pandemie in den vergangenen drei Jahren erschöpft. Die Mitarbeitenden in den Kindertageseinrichtungen bemühen sich nach Kräften, fehlendes Personal zu kompensieren und den Kindern und ihren Familien auch unter schwierigen Rahmenbedingungen weiterhin eine gute Begleitung und Unterstützung zu sein. Allerdings werden die Grenzen des Machbaren immer wieder erreicht."
Um den Kollaps im Kitasystem abzuwenden, brauche es dringend ein tragfähiges Gesamtkonzept, das sowohl kurzfristige Lösungen als auch mittel- und langfristige Perspektiven berücksichtigt. "Eine große Herausforderung wird darin liegen, auch im Krisenmodus das erforderliche Maß an Qualität zu sichern, das die Jüngsten in unserer Gesellschaft unbedingt für ihr Aufwachsen und ihre Entwicklung brauchen", so Prott weiter. Die Diakonie RWL setze sich daher gemeinsam mit den anderen Spitzenverbänden und den Kirchen fachpolitisch intensiv für tragfähige Maßnahmen zur Bewältigung des Fachkräftemangels ein.
Text: Verena Bretz, Fotos: Bretz, Diakonie Düsseldorf, Pixabay, Shutterstock, Helene Souza/Pixelio.de