14. September 2016

Armutsprävention

"Kinder brauchen Leistungen aus einer Hand"

Die Wirtschaft wächst, aber die Kinderarmut steigt. Das zeigt eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung. Danach wachsen fast zwei Millionen Kinder in Familien auf, die von staatlicher Grundsicherung leben. Die Beauftragte für Sozialpolitik der Diakonie RWL, Helga Siemens-Weibring, fordert daher gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) eine soziale Sicherung für Kinder.

Portrait

Helga Siemens-Weibring

Schätzungen zufolge stünden für familienpolitische Leistungen bundesweit insgesamt rund 200 Milliarden Euro zur Verfügung, sagte die Beauftragte der Diakonie RWL für Sozialpolitik, Helga Siemens-Weibring, in Münster dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Durch die verschiedenen Töpfe und die unterschiedliche Verteilung kommt das Geld nicht da an, wo es gebraucht wird." Eine wesentliche Ursache für Armut von Kindern sei Familienarmut, etwa durch Arbeitslosigkeit der Eltern. Laut einer am Montag veröffentlichten Studie der Bertelsmann Stiftung hat die Kinderarmut in Deutschland zugenommen.

Zwischen den unterschiedlichen Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen sei eine effektive Koordination der Hilfen für Kinder kaum möglich. Die Hilfen bei Arbeitslosigkeit würden über den Bund gesteuert. Präventionsketten wie beispielsweise das NRW-Programm "Kein Kind zurücklassen" seien hingegen in landespolitischer Verantwortung. Die Hilfen müssten dann wiederum in den Kommunen umgesetzt werden. Zudem seien verschiedene Ämter beteiligt, etwa Sozialamt, Arbeitsamt, Jugendamt oder Gesundheitsamt. "Das alles zusammenzufassen, ist schwierig", erklärte Siemens-Weibring.

"Soziokulturelles Existenzminimum" erforderlich

Nötig sei eine "soziale Sicherung für Kinder, die sich an den Kindern orientiert", unterstrich die Diakonie-Expertin. Deshalb setzten sich Diakonie und Kirchen für ein "soziokulturelles Existenzminimum" ein. Die Mittel müssten auf die Kinder abgestimmt werden. Möglich sei es etwa, die Hilfen in der Steuerpolitik zu verankern. Pauschale Beträge für Kinder, bei denen wohlhabende Eltern den gleichen Betrag für ihre Kinder erhielten wie weniger wohlhabende, hält die Diakonie nicht für sinnvoll.

Besorgt äußerte sich Siemens-Weibring über die Armut unter Flüchtlingskindern. Flüchtlingsfamilien kämen oftmals in das gleich System wie Familien mit arbeitslosen Eltern. Häufig seien die Eltern nicht genug qualifiziert und kämen nicht in den Arbeitsmarkt. Besonders problematisch sei die Situation für Flüchtlinge, die noch nicht in dem Hilfesystem seien, weil sie noch auf ihren Status warteten. Bei den Hilfen sollten Kinder als Kinder behandelt werden, und nicht als Flüchtlinge, mahnte die Diakonie-Expertin.

Saarland und NRW besonders betroffen

Nach der Studie der Bertelsmann-Stiftung sind vor allemJungen und Mädchen in Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil oder mit mehr als zwei Kindern von Armut betroffen. Von allen Kindern in staatlicher Grundsicherung lebte im vergangenen Jahr jedes zweite (50 Prozent) bei einem alleinerziehenden Elternteil und etwa jedes dritte (36 Prozent) in Familien mit drei und mehr Kindern. Die Bertelsmann Stiftung forderte eine Reform der Grundsicherung für Kinder. Die Unterstützung in Deutschland müsse komplett neu gedacht werden und sich am tatsächlichen Bedarf von Kindern und Jugendlichen orientieren, sagte der Stiftungsvorstand Jörg Dräger. Nur so könne Kinderarmut wirksam bekämpft werden.

In neun von 16 Bundesländern sei der Anteil von Kindern in staatlicher Grundsicherung zwischen 2011 und 2015 gestiegen, hieß es. Am stärksten nahm die Quote in Bremen zu, sie stieg auf 31,6 Prozent (plus 2,8 Prozentpunkte), gefolgt vom Saarland auf 17,6 Prozent (plus 2,6 Prozentpunkte) und Nordrhein-Westfalen auf 18,6 Prozent (plus 1,6 Prozentpunkte).

Im Westen stieg die Kinderarmut der Studie zufolge von 12,4 Prozent im Jahr 2011 auf 13,2 Prozent im Jahr 2015. In Ostdeutschland sei die Quote im gleichen Zeitraum zwar von 24 auf 21,6 Prozent gesunken, bleibe damit aber auf hohem Niveau, hieß es. Die Daten basieren auf eigenen Berechnungen der Bertelsmann Stiftung auf der Grundlage der Statistik der Bundesagentur für Arbeit.

epd-Gespräch: Holger Spierig