29. Mai 2020

Kinderarmut

"Wir müssen jetzt in unsere Zukunft investieren"

Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien haben in Deutschland weniger Chancen. In der Corona-Pandemie könnten sie weiter abgehängt werden, befürchten Integrationsexpertin Heike Moerland und Tim Rietzke, Leiter des Geschäftsfelds Familie. Deshalb hat die Diakonie gemeinsam mit anderen Wohlfahrtsverbänden eine Erklärung unterschrieben. Ihre Forderung an die Politiker: Nehmt Kinderarmut nicht länger hin!

  • Wir müssen Kinder, die in Armut aufwachsen, jetzt unterstützen, fordern Familienexperte Tim Rietzke und Integrationsexpertin Heike Moerland.
  • Verzweifelung: Besonders Alleinerziehende sind armutsgefährdet. (Foto: Shutterstock)

Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm. Besonders während der Corona-Pandemie ist ihre Teilhabe gefährdet. Jetzt hat das Diakonische Werk Rheinland-Westfalen-Lippe als Mitglied der Freien Wohlfahrtspflege NRW eine Erklärung gegen Kinderarmut unterschrieben. Was steht da drin?

Heike Moerland: Das Bündnis "Ratschlag Kinderarmut" setzt sich in der Erklärung dafür ein, dass Armut nicht mehr tabuisiert wird. Stattdessen müssen wir jetzt handeln und die Kinder und Jugendlichen nachhaltig unterstützen. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, wie strukturelle Armut vor Ort in den Städten und Kommunen bekämpft werden soll.

Welche Kinder sind in Deutschland besonders von Armut gefährdet?

Moerland: Die Armut der Kinder hängt in erster Linie von der Ausgangslage der Eltern ab. Manche gesellschaftlichen Teilgruppen sind besonders gefährdet. Insgesamt kann man sagen, dass die Berufstätigkeit der Eltern das Armutsrisiko erheblich senkt. In Familien, in denen beide Elternteile arbeiten – davon mindestens einer in Vollzeit – liegt das Armutsrisiko der Kinder bei unter fünf Prozent. Bei Alleinerziehenden, Familien mit Migrationshintergrund und Familien aus einem bildungsfernen Hintergrund steigt das Armutsrisiko drastisch an. In manchen dieser gesellschaftlichen Teilgruppen sind bis zu 40 Prozent betroffen.

Warum ist die Corona-Pandemie für diese Kinder und Jugendlichen besonders schlimm?

Tim Rietzke: Gerade jetzt könnten viele endgültig abgehängt werden. Wer keinen Laptop hat, um die Schulaufgaben zu machen, oder dessen Vater oder Mutter nicht beim Lernen helfen kann, verliert während der Pandemie schnell den Anschluss. Auch andere Unterstützungsangebote fehlen. Wenn soziale Einrichtungen geschlossen sind, trifft dies vor allem die Schwächsten. Wir haben Sorge, dass jetzt große Lücken entstehen, die sich kaum noch aufholen lassen.
 
Es gibt aber einige finanzielle Unterstützungsangebote für einkommensschwache Familien, wie den 150 Euro Zuschuss für eine digitale Ausstattung.

Moerland: Das Geld reicht hinten und vorne nicht aus. Für eine ganz elementare digitale Grundausstattung sind 400 Euro nötig. Die Kinder und Jugendlichen brauchen jetzt funktionierende Hardware und einen Internetzugang.

Rietzke: Der Hartz-IV-Regelsatz reicht nicht aus. Wenn jetzt die Leistungen zur Bildung und Teilhabe (BuT) wie das kostenlose Schulessen nicht mehr abgerufen werden können, müssen die Familien auf anderem Wege unterstützt werden.

Moerland: Viele der Ideen gehen jedoch an der Lebenswirklichkeit der Familien vorbei. Für Kinder mit Armutserfahrungen soll es Essenslieferungen nach Hause geben. Das ist völlig schräg gedacht, wenn bei einer Familie mit drei Kindern, die in die Kita, die Grundschule und die weiterführende Schule gehen, dann drei unterschiedliche Caterer vor der Tür stehen. Wir müssen die Familien stattdessen befähigen. Ein Corona-Zuschlag mit dem die Eltern zusätzliche Lebensmittel kaufen könnten, wäre eine viel bessere Lösung.

Wenn Sportklubs oder andere Freizeitaktivitäten zu teuer sind, können Kinder aus einkommensschwachen Familien vereinsamen. (Foto: Shutterstock)

Wenn Sportklubs oder andere Freizeitaktivitäten zu teuer sind, können Kinder aus einkommensschwachen Familien vereinsamen. (Foto: Shutterstock)

Was kann man gegen die strukturelle Armut ausrichten?

Moerland: Wir setzen uns schon lange für eine Kindergrundsicherung ein. Statt mehr als 150 einzelner Leistungen im Sozial- und Steuerrecht für Familien mit Kindern, sollte es ab der Geburt eines Kindes eine einheitliche Leistung geben, die jeder Familie zusteht. Je nach individueller Ausgangslage kann dieser Betrag dann noch unkompliziert aufgestockt werden – ohne viele und komplizierte Anträge. Das gibt den Familien Souveränität und Würde zurück.

Rietzke: Wir müssen unsere Infrastruktur in den Städten und Kommunen dringend ausbauen und verbessern. Wir brauchen Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, die allen Kindern und Jugendlichen offen stehen, für alle erreichbar und vor allem für alle bezahlbar sind. Oftmals fehlen diese Angebote genau dort, wo sie am nötigsten gebraucht werden. Wenn wir dann noch zusätzliche Einrichtungen schaffen, in denen sich Familien beraten lassen können, Unterstützung bekommen oder auch mal die Möglichkeit haben als Familie in einer gemeinnützigen Familienferienstätte Kraft zu tanken, ist schon viel gewonnen. 

In den vergangenen Wochen ging es vor allem um mögliche Lockerungen, die Folgen der Corona-Pandemie für die Wirtschaft und auch für Selbstständige. Sind die Kinder in der öffentlichen Diskussion untergegangen? Was müsste sich verändern?

Rietzke: Persönlich hatte ich schon den Eindruck, dass es eher um die Belastungen der Erwachsenen ging und das Wohlergehen der Kinder nur selten Thema war.

Moerland: Die Kinder sind unsere Zukunft und wir müssen schauen, dass gerade sie gut durch diese Krise kommen. Wenn sie und ihre Eltern unterstützt werden, können die Kinder und Jugendlichen lernen, dass man aus so einer kritischen Lage auch wieder herauskommt. Es geht darum, ein Gefühl der Selbstwirksamkeit zu entwickeln und nicht zu resignieren. Das hilft nicht nur in dieser Krise, sondern auch in zukünftigen kritischen Lebenssituationen und ist damit auch ein Beitrag zur Armutsprävention.

Rietzke: Das sehe ich genauso. Jetzt zeigt sich ganz deutlich, was wir in Sachen Armutsbekämpfung in den vergangenen Jahren versäumt haben. Es geht in den öffentlichen Diskussionen immer wieder darum: Wie bekommen wir das System wieder ans Laufen? Aber eigentlich müssten wir gucken: Wie bringt man die Zukunft – unsere Kinder – ans Laufen? Wie bringen wir sie gut durch die Krise?

Das Gespräch führte Ann-Kristin Herbst.

Ihr/e Ansprechpartner/in
Heike Moerland
Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration
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Diskussion um Familienbonus
Familien werden in der Corona-Pandemie stärker belastet – auch finanziell. Politikerinnen und Politiker diskutieren deshalb, ob Familien je Kind einen Corona-Bonus in Höhe von 300 Euro erhalten sollen. Dabei geht es auch darum, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die Diakonie Deutschland spricht sich dafür aus, die Hilfen auf Familien mit einem niedrigen Einkommen zu konzentrieren. Denn gerade sie hätten keine Rücklagen, um gestiegene Ausgaben aufgrund wegfallender Sonderangebote, verminderter Hilfeangebote wie Tafeln und zusätzlicher Kosten fürs Home-Schooling auszugleichen, sagt die soziapolitische Vorständin Maria Loheide."Familien mit geringem Einkommen werden die dringend benötigte Finanzhilfe direkt ausgeben. Dadurch stärken sie unmittelbar die private Nachfrage", argumentiert Loheide. Bei Familien, die trotz der Krise finanziell gut dastehen, dürfte der Bonus dagegen teilweise auf der hohen Kante landen. (Quelle: Diakonie Deutschland).