4. April 2023

Jugendkriminalität

Wie straffällige Kinder "die Kurve kriegen"

Sozialarbeiterin Lea Dörwaldt von der Diakonie Michaelshoven begleitet  seit Juli 2022 kriminelle Kinder und Jugendliche im Programm "Kurve kriegen". Ziel ist es, die jungen Menschen von weiteren Straftaten abzuhalten und ihnen Perspektiven aufzuzeigen. Die Initiative wird seit 2011 durch das Innenministerium NRW ermöglicht und ist bereits in 38 Kreispolizeibehörden umgesetzt.

Lea Dörwaldt betreut als pädagogische Fachkraft straffällige Kinder und Jugendliche.

Lea Dörwaldt begleitet straffällige Kinder und Jugendliche. "Ich liebe meinen Job", sagt sie.

Sie arbeiten als pädagogische Fachkraft bei "Kurve kriegen" im Rheinisch-Bergischen Kreis. Was hat Sie an dem Job überzeugt?

Lea Dörwaldt Für mich ist es eine besondere Herausforderung, mit straffälligen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Ich kann sie unterstützen und ihnen eine positive Entwicklung ermöglichen. Außerdem vereint mein Job viele meiner Interessen. Nach neun Monaten im Job kann ich sagen: Ich liebe ihn!

Was sagen die Jugendlichen über Sie?

Dörwaldt Die meisten sagen zu mir: "Sie sind hart aber fair." Genauso würde ich mich auch beschreiben. Ich bin sehr einfühlsam, vermittle aber auch klare Grenzen. Das ist in meinem Job sehr wichtig.

Was genau machen Sie in Ihrem Job?

Dörwaldt Meine Arbeit ist eine Mischung aus administrativen und operativen Aufgaben, also die Zusammenarbeit mit den  Jugendlichen, deren Familien und Netzwerkarbeit, beispielsweise mit Schulen und Jugendämtern oder Suchthilfevereinen und Jugendwerkstätten. Wir arbeiten auch mit Drittanbietern zusammen: Das kann ein Anti-Gewalt-Training sein oder erlebnispädagogische Arbeit.

Das Team von "Kurve kriegen" im Rheinisch-Bergischen-Kreis (v.l.): Kriminalhauptkommissar Stefan Lurz, Timo König und Lea Dörwaldt (pädagogische Fachkräfte), Peter Liening (Leiter des Kriminalkommissariats für Kriminalprävention und Opferschutz).

Das Team von "Kurve kriegen" im Rheinisch-Bergischen-Kreis (v.l.): Kriminalhauptkommissar Stefan Lurz, Timo König und Lea Dörwaldt (pädagogische Fachkräfte), Peter Liening (Leiter des Kriminalkommissariats für Kriminalprävention und Opferschutz).

Wer stellt den Kontakt zu den straffälligen Jugendlichen her?

Dörwaldt Das läuft über die Polizei im Rheinisch-Bergischen-Kreis. Wer in das Programm passt, das heißt im Alter von acht bis 15 Jahren ist und eine Gewalttat oder beispielsweise drei Eigentumsdelikte begangen hat, kommt in die engere Auswahl. Es wird auch geprüft, wie etwa die Lebensumstände sind. Dann stellt die Polizei den Kontakt zu den Familien oder Jugendhilfeeinrichtungen her und macht einen ersten Termin aus. Dabei wird den Jugendlichen erklärt, was "Kurve kriegen" überhaupt ist.

Wann kommen Sie ins Spiel?

Dörwaldt In den meisten Fällen erhält die Polizei die Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten, um die Daten an mich weiterzugeben. Die Familien sind sehr daran interessiert, dass den Kindern geholfen wird. Wenn ich in die Familien gehe, überlegen wir gemeinsam, wie wir den jungen Menschen stärken können. Ganz wichtig ist es, mit den Jugendlichen selbst zu sprechen und zu erfahren, ob sie etwas verändern wollen. Ich kann nur mit denen zusammenarbeiten, die das möchten.

Wie viele Jugendliche betreuen Sie?

Dörwaldt Den ersten Jugendlichen betreuen wir schon seit Juli 2022, mittlerweile unterstützen wir fünf Jugendliche. Die Altersspanne liegt zwischen neun und 15 Jahren. Sie alle haben unterschiedliche Biografien und unterschiedliche Delikte begangen.

Ein Jugendlicher droht mit Fäusten.

Fast alle jungen Menschen, die Lea Dörwaldt betreut, haben Gewalttaten begangen: Raub, Diebstahl und Drohungen bis hin zur Anwendung von Gewalt.

Um was für Straftaten handelt es sich?

Dörwaldt Fast alle, die ich aktuell betreue, haben Gewalttaten begangen: Raub, Diebstahl und Drohungen bis hin zur Anwendung von Gewalt.

Warum werden Kinder straffällig?

Dörwaldt Meist hat es familiäre Hintergründe. Oft ist die Straftat eine Art Hilferuf. Die jungen Menschen wollen Aufmerksamkeit - egal, ob sie diese mit einer positiven oder negativen Handlung erhalten.

Sprechen Sie auch mit den Eltern?

Dörwaldt Ich kann Eltern oder Geschwister mit einbinden, wenn es sinnvoll ist. 

Welche Entwicklung sehen Sie bei den betreuten Jugendlichen?

Dörwaldt Ich merke mit der Zeit, dass die Beziehungsarbeit fruchtet, die Jugendlichen öffnen sich zunehmend. Einige können sich besser darauf einlassen, anderen fällt es schwerer, Hilfe anzunehmen. Das hat auch mit dem jeweiligen Umfeld zu tun.

Ein Jugendlicher hält ein Messer in der Hand. Im Hintergrund stehen weitere Jugendliche.

"Kurve kriegen" ist ein freiwilliges Programm und eine echte Chance für die Jugendlichen, aus der Straffälligkeit rauszukommen. 

Wie gehen Sie damit um, wenn ein Jugendlicher rückfällig wird?

Dörwaldt  Dann sage ich klar, dass ich das blöd finde. Dass wir zwar mit den Gegebenheiten weiterarbeiten, aber es nicht noch mal vorkommen soll. Im Endeffekt ist es so, dass die Jugendlichen für ihr Leben verantwortlich sind und ich ihnen nur die Mittel zur Verfügung stelle, damit es besser läuft. "Kurve kriegen" ist ein freiwilliges Programm und eine echte Chance für die Jugendlichen, aus der Straffälligkeit rauszukommen. Dafür müssen sie die Bereitschaft haben, auf freiwilliger Basis mitzuarbeiten.

Die Polizei vor der Haustür zu haben, ist meist ein Schock. 

Dörwaldt Als Elternteil ist man natürlich erstmal schockiert - oder vielleicht auch nicht, weil man es schon gewohnt ist. Aber die Kolleg*innen von der Polizei sind sehr einfühlsam. Sie machen klar, dass sie keine Vollstreckungsbeamten sind, sondern die helfende Hand reichen, um kooperativ eine Lösung für das Kind zu finden. Sie besuchen die Familien natürlich auch in Zivil, also ohne Polizeiwagen und Uniform, damit die Nachbarschaft nichts mitbekommt.

Wenn schon ein neunjähriges Kind mit Delikten auffällt, was läuft da schief?

Dörwaldt Ich glaube, dass ganz viel in der Gesellschaft falsch läuft und "Kurve kriegen" eine Lücke schließt. Straffällige Jugendliche werden erst ab 14 Jahren in der Jugendgerichtshilfe behandelt, straffällige Kinder hingegen werden vom Jugendamt betreut. Die dortigen Mitarbeitenden wissen aber oft gar nicht richtig, was sie mit den Kindern anfangen sollen. Wir sind Bindeglied zwischen dem, was das Jugendamt möchte, was die Eltern wollen und was vor allem die Kinder brauchen. Meiner Erfahrung nach ist es oft so, dass die Eltern oder das Jugendamt etwas durchsetzen, was das Kind gar nicht will. Dann bin ich oft die Erste, die das Kind fragt, wie es ihm geht und was es überhaupt möchte.

Wer beteiligt sich am Programm "Kurve kriegen"?
Dörwaldt Das Programm läuft seit 2011, da gibt es so einige Absolvent*innen, aber natürlich auch Abbrüche. Generell erweist sich das Konzept mit der Zusammenarbeit von pädagogischen Fachkräften und der Polizei als sehr erfolgreich. Bis auf sieben Polizeibehörden sind mittlerweile alle in NRW am Start.

Das Interview führte Melani Köroglu. Fotos: Köroglu/Diakonie Michaelshoven, Polizei RBK, Shutterstock

Ihr/e Ansprechpartner/in
Verena Bretz
Stabsstelle Politik und Kommunikation
Weitere Informationen

Fakten zum Programm

Ein Intensivtäter hinterlässt bis zu seinem 25. Geburtstag rund 100 Opfer. Das Dunkelfeld ist nochmals wesentlich größer.

Ein Intensivtäter verursacht bis zu seinem 25. Lebensjahr rund 1,7 Millionen Euro soziale Folgekosten. Gelingt es, eine potenzielle "Karriere" eines Intensivtäters mit 14 Jahren zu beenden, spart die Gesellschaft etwa 1,66 Millionen Euro bis zum 25. Lebensjahr als Folgekosten.

80 Prozent der Teilnehmenden halten durch, arbeiten erfolgreich und freiwillig im Projekt mit und "kriegen die Kurve".

Über Lea Dörwaldt

Ihr Schulpraktikum hat Lea in der Jugendgerichtshilfe absolviert. Nach dem Abitur machte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Danach studierte sie Soziale Arbeit. Ihr Praxissemester verbrachte Lea in der Bewährungshilfe. Ihr erster Job war in einer Intensivgruppe für Jugendliche mit psychischen Erkrankungen. Später wechselte sie in die forensische Psychiatrie, bevor sie gemeinsam mit weiteren Fachkräften ein Mutter-Kind-Haus aufbaute. Seit Juli 2022 ist die 27-Jährige als pädagogische Fachkraft für das Programm "Kurve kriegen" bei der Diakonie Michaelshoven.