21. August 2018

Beratung bei Onlinesucht

Gefangen in der virtuellen Welt

Die Gamescom, weltgrößte Messe für Computer- und Videospiele, startet heute wieder in Köln. Seit zehn Jahren ist sie vor allem für Jugendliche ein Highlight. Aus ihrem Alltag sind Onlinespiele, Youtube und Chats nicht mehr wegzudenken. Doch wann wird aus dem Gedaddel eine Sucht? Bei Alexander Heine, Berater für Onlinesucht der Diakonie Düsseldorf, fragen besorgte Eltern mit ihren Kindern nach.

Hand auf Tastatur mit Handschelle

Da sitzt er am PC und spielt - wie festgeschraubt.  Ist er süchtig?, fragen besorgte Eltern.

Statt ins Freibad zu gehen, sitzt der 15-jährige Max lieber in seinem Zimmer und spielt Online-Games. Wenn die Familie zum Essen zusammenkommt, bleibt sein Platz leer. Er muss noch "zu Ende spielen". In der Schule sind die Noten schlecht geworden. Max wirkt oft unkonzentriert und abwesend. Sind das alles schon Zeichen einer Onlinesucht?

Die Alltagsgeschichten, die besorgte Eltern dem Düsseldorfer Sozialarbeiter Alexander Heine schildern, hören sich alle ähnlich an, und sie enden meistens mit dieser Frage. Rund 50 Fälle bearbeitete Alexander Heine letztes Jahr zusammen mit seinen zwei Kolleginnen in der Beratungsstelle für Onlinesucht der Diakonie Düsseldorf. Seit Gründung von "disconnect – Join real life" ("Schalte aus und nimm am echten Leben teil") vor neun Jahren steigt der Beratungsbedarf stetig.

Portrait

Alexander Heine rät Eltern, klare Regeln aufzustellen. So beugen sie einer möglichen Onlinesucht vor.

Regeln für den Medienkonsum

Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) hat sich die Zahl der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren, die vom Internet abhängig sind, in den vergangenen vier Jahren auf 270.000 verdoppelt. Knapp sechs Prozent der Jungen haben danach eine "computerspiel- oder internetbezogene Störung".

Andere Studien gehen gar von acht Prozent aus. Über 36 Prozent der männlichen Jugendlichen spielen täglich Computerspiele. Eine therapiebedürftige Sucht stellt Alexander Heine allerdings bei den wenigsten Jugendlichen fest, die mit den Eltern in seine Beratung kommen.

Häufig kann das auffällige Spielverhalten der Jugendlichen mit klaren Vereinbarungen und Regeln begrenzt werden. "Es ist normal, dass Kinder und Jugendliche von der virtuellen Welt fasziniert sind", beruhigt der 47-jährige Sozialarbeiter die Eltern. Die meisten sind neugierig, spielen gerne und mögen es, in andere Rollen zu schlüpfen.

Zwei Kinder vor einem Laptop

Eltern sollten wissen, was ihre Kinder im Netz machen. 

Flucht vor familiären Problemen

"Oft finden sie im Netz eine Anerkennung, die ihnen in der Familie und bei Freunden fehlt", erklärt Alexander Heine. Heine rät Eltern daher, sich stärker mit den Spielen und Videos ihrer Kinder zu beschäftigen und herauszufinden, welche Wünsche sie dort ausleben. Letztlich gehe es immer wieder darum, sich in der Familie für einander zu interessieren und miteinander zu reden, betont er.

Oft helfen schon ein, zwei Beratungen, in denen der Sozialarbeiter mit Eltern und Jugendlichen über das Familienleben und altersgemäße Regeln für den Medienkonsum spricht. Das ständige Spielen und Chatten im Netz kann aber auch eine Flucht vor Problemen in der Familie oder Schule sein, etwa wenn Eltern sich getrennt haben oder die Jugendlichen von Klassenkameraden gemobbt werden. Dann vermittelt er die Familien an Erziehungsberatungsstellen.

Schild "Game over"

Ende des Spiels - Wer abhängig vom "Kick" der Onlinegames ist,  braucht Therapie.

Kontrollverlust über Zeit

In rund zehn Prozent der Fälle empfiehlt Heine allerdings eine stationäre Behandlung, weil bereits eine Abhängigkeit vorliegt. "Was bei Spielsüchtigen der Kontrollverlust über Geld ist, zeigt sich bei Onlinesüchtigen als Kontrollverlust über Zeit", erklärt Heine, der schon seit 18 Jahren als Suchttherapeut arbeitet.

Wichtige Kriterien für eine Abhängigkeit sind erfüllt, wenn Jugendliche in die virtuelle Welt der Spiele so stark eintauchen, dass sie nächtelang durchspielen, Essen, Sport und Freunde unwichtig werden und selbst dann nicht aufhören können, wenn  der Schulabschluss oder die Ausbildung gefährdet sind, die Freundin Schluss macht oder die Eltern mit Rausschmiss drohen.

In einer Therapie werden – ähnlich wie bei Alkohol- und Glücksspielabhängigkeit – Verhaltensregeln trainiert. Doch es gibt einen Unterschied: Totale Abstinenz ist nicht gefordert. Es gehe vielmehr um eine Regulierung der Mediennutzung, erklärt Heine. 

Ampel

Die Therapie bei Onlinesucht erfolgt nach einem Ampelsystem.

Ampelsystem statt Abstinenz

Die erfolgt in der Therapie nach einem Ampelsystem: Rot für Spiele mit einem hohen Suchtpotenzial, bei denen wie bei "World of Warcraft" über Gruppenzwang und Rollen starke Bindungen aufgebaut werden. Gelb für Youtube und Facebook. Grün – wie unbedenklich – für E-Mails und Skype. Ab dem kommenden Jahr wird Computerspielsucht von der Weltgesundheitsorganisation als Abhängigkeitserkrankung anerkannt und die Behandlung dann vermutlich als Kassenleistung anerkannt.

Obwohl von Onlinesucht durchaus auch Mädchen betroffen sind, kommen in Alexander Heines Beratung vor allem Eltern mit männlichen Jugendlichen. Laut BzgA-Studie sind sieben Prozent der zwölf- bis 17-jährigen Mädchen internetabhängig. Doch das intensive Chatten und Anschauen von Youtube-Videos, in denen sogenannte Influenzer Schmink- und Modetipps geben, scheint Eltern weniger zu besorgen als das exzessive "Gamen" ihrer Jungen.

Portrait

In der Beratung bleibt der Stuhl für die Mädchen meistens leer - noch.

Mädchen holen auf

Eine Erklärung dafür hat der Sozialarbeiter nicht. Sicher ist er sich aber, dass die Zahl seiner Klienten in den nächsten Jahren steigen wird. Der Gebrauch von Smartphones, Tablets und Computern nimmt stetig zu, die Grafiken werden immer besser und die Spiele immer detail- und realitätsgetreuer. Das macht es leichter, sich in der virtuellen Welt zu verlieren.

Besorgten Eltern, die ihre Kinder deshalb nicht zur Gamescom fahren lassen wollen, rät Alexander Heine aber zu Gelassenheit. "Die Jugendlichen sind ja analog unterwegs und haben zusammen Spaß", betont er. "Die Gefahr, auf dieser Messe onlinesüchtig zu werden, halte ich für sehr gering."

Text und Fotos: Sabine Damaschke/pixabay