Tag der gewaltfreien Erziehung
Seit Wochen verbringen Familien viel Zeit auf engstem Raum, ohne Möglichkeiten in den Sportverein, ins Kino oder zum Freund gehen zu können. Führt die Corona-Pandemie zu mehr häuslicher Gewalt?
Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Klar ist, die Kontaktbeschränkungen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie belasten viele Familien stark. Wer auf engem Raum unter starkem psychischen Stress und existenziellen Sorgen zusammenlebt, bei dem könnten Streitereien auch schneller eskalieren.
Die Zahlen spiegeln diese Annahme bislang noch nicht eindeutig wider. Einerseits vermeldete das deutschlandweite Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen einen Anstieg von 20 Prozent mehr Anrufen wegen häuslicher Gewalt im April. Und auch in Essen warnte der dortige Polizeisprecher im März vor einem Anstieg der häuslichen Gewaltdelikte um 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Andererseits sind die gemeldeten Kindeswohlgefährdungen seit Ostern jedoch deutlich gesunken. Bei unseren Trägern und Einrichtungen gibt es aktuell ebenfalls keinen deutlichen Anstieg von Beratungsanfragen oder Inobhutnahmen.
60 Prozent der Kindeswohlgefährdungen werden von Kinderärzten, Lehrern oder Kindergärten gemeldet. Jetzt gibt es viel weniger Menschen, die genau hinschauen.
Das macht allen, die in der Jugendhilfe arbeiten, große Sorgen. Ich hoffe, dass Nachbarn, Freunde und Bekannte jetzt besonders aufmerksam sind, den Kindern und Jugendlichen zuhören und auf Warnzeichen achten. Polizei und Jugendamt gehen auch während der Corona-Pandemie in die Familien, wenn es Hinweise auf Gewalt oder Kindeswohlgefährdungen gibt.
Die Kinder haben gerade kaum Möglichkeiten, sich einem Freund oder einem außenstehenden Erwachsenen anzuvertrauen. Hinzu kommen die Strukturen, die jetzt komplett auf den Kopf gestellt wurden. Wer in einer Familie groß wird, in der es häufig zu Konflikten kommt, der braucht dringend einen verlässlichen Alltag.
Traurig und alleine gelassen - Wie es den Kindern geht, können Mitarbeitende der Jugendhilfe jetzt nur per Videotelefonie sehen.
In der Jugendhilfe unterstützen die Mitarbeitenden Familien in ihrem Alltag und bei der Erziehung der Kinder auch direkt vor Ort. Wie klappt das jetzt?
In den ambulanten erzieherischen Hilfen nutzen die Kolleginnen und Kollegen ganz stark die Videotelefonie. Das hat den Vorteil, dass sie die Kinder auch "sehen" können. Allerdings haben nicht alle Familien die technische Ausstattung dafür, da muss dann auch bei manchen das normale Telefonat reichen.
Es ist manchmal schwer einzuschätzen, wie es den Familien gerade wirklich geht. Übers Telefon geht die Gestik und Mimik verloren und die Mitarbeitenden erleben die Kinder nicht zuhause in ihrem gewohnten Umfeld, können nicht mit ihnen spielen oder sich im Kinderzimmer austauschen. In einigen unserer Einrichtungen machen die Mitarbeitenden deshalb "Spazier-Termine" aus. Sie holen die Kinder und Jugendlichen zuhause ab und gehen mit genügend Abstand zusammen spazieren. Da lassen sich sensible Themen einfach besser besprechen.
Jugendliche sind vor allem per Smartphone zu erreichen. Die Digitalisierung wird in Zukunft eine größere Rolle in der Jugendhilfe spielen, meint Tim Rietzke.
Die Corona-Pandemie wird uns noch Monate beschäftigen. Was bedeutet das für die Arbeit in der Jugendhilfe?
Wir werden in einigen Bereichen noch digitaler arbeiten müssen. Für die meisten Jugendlichen ist das kein Problem. Viele freuen sich sogar, dass sie jetzt auch digital gefordert werden. Wir müssen uns grundsätzlich viel stärker auf die zunehmend digitaler werdende Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen einlassen und da viel mehr Angebote machen.
Uns zeigt die aktuelle Krise, wo wir noch Nachholbedarf haben. Es ist eine Chance, eine Art Bestandsanalyse zu erstellen. In einigen Einrichtungen fehlt es an moderner technischer Ausstattung. Die brauchen wir jetzt dringend.
Die digitalen Angebote können in der pädagogischen Arbeit natürlich nicht völlig den persönlichen Kontakt ersetzen. Deshalb müssen wir in den kommen Wochen und Monaten kreative Lösungen finden, um die Gruppen zu verkleinern und gezielte Angebote zu machen. Außerdem soll es feste Termine statt der offenen Sprechstunden geben.
Tagesgruppen und teilstationäre Einrichtungen haben wieder geöffnet. Wie sieht die Arbeit dort aus?
Ein großes Thema ist die fehlende Schutzkleidung. Viele werden jetzt kreativ, um an Ausrüstung zu kommen. Denn bei der Verteilung der Masken steht die Jugendhilfe meist ganz unten auf der Liste. Wenn es zu einer Covid-19-Infektion in einer der Angebote kommt, muss die Einrichtung wieder schließen und das wollen natürlich alle verhindern. Die Gruppen werden so klein wie möglich gehalten und jetzt bei dem schönen Wetter findet viel draußen statt. Das erleichtert die Arbeit etwas.
Das Interview führte Ann-Kristin Herbst. Fotos: Herbst und Pixabay
Hilfen zur Erziehung
Neues Hilfsportal für Kinder
Kinder, die Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind, können auf einem neuen Portal des unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung schnell Hilfe finden. Das Angebot "Kein Kind alleine lassen" richte sich vor allem an jüngere Kinder. Sie können direkt per Chat, Mail oder Telefon Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen. Zudem finden sich auf der Seite Tipps zum Umgang mit Gewaltandrohungen. Für den Notfall, dass ein Täter direkt ins Zimmer kommt, gibt es einen "Exit-Knopf", der die Internetseite verschwinden lässt. (Mit Material von Tagesschau.de)