28. Januar 2020

Stationäre Jugendhilfe

Schulkinder zweiter Klasse?

Gehäufte Fehlstunden, schlechte Leistungen und Beurteilungen – Am Freitag halten viele Kinder und Jugendliche, die in Heimen und Wohngruppen in NRW leben, wieder ein oftmals schlechtes Zeugnis in den Händen. Kein Wunder, denn gut 12 Prozent werden regelmäßig vom Unterricht ausgeschlossen. Zumeist, weil unser  Schulsystem mit ihnen überfordert ist. Das zeigt eine aktuelle Umfrage der Diakonie RWL unter ihren 140 Einrichtungen. 

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Zeugnistage sind für die Pädagoginnen und Pädagogen in der stationären Jugendhilfe der Bergischen Diakonie oft anstrengende Tage. Sie betreuen rund 200 Kinder und Jugendliche in Wohngruppen in Wuppertal, Wülfrath und Remscheid. Die meisten von ihnen gehen zur Schule. Sie kommen in den letzten Jahren häufiger mit schlechten Zeugnissen nach Hause, weil sie mit den Anforderungen der Schule nicht zurechtkommen, den Unterricht sprengen und durch Ausschluss zu selten am geregelten Schulalltag teilnehmen können.

"Wir versuchen, die Kinder aufzufangen und ihnen Mut zu machen, aber unsere Pädagogen können nicht kompensieren, was ihnen an Entwicklungsmöglichkeiten fehlt, weil sie regelmäßig vom Unterricht ausgeschlossen sind", erklärt Hilde Benninghoff-Giese, Abteilungsleitern der Jugendhilfe Aprath.

Hilde Benninghoff-Giese leitet die Jugendhilfe Aprath der Bergischen Diakonie

Hilde Benninghoff-Giese leitet die Jugendhilfe Aprath der Bergischen Diakonie und ist  Mitglied des Evangelischen Fachverbands für Erzieherische Hilfen der Diakonie RWL. (Foto: S. Damaschke)

Lebensort Schule

Heute ist Schule mit ihren vielen Ganztagsangeboten zu einem Lebensort geworden. Fehle ein Kind regelmäßig einige Tage bis zu mehreren Wochen, verliere es den Anschluss, betont die 56-jährige Sozialpädagogin. Es könne keine Routine entwickeln und seine "Hauptaufgabe" Schülerin oder Schüler zu sein nicht lernen. Es werde zum Außenseiter und soziale Defizite verstärkten sich.

"Man nimmt diesen Kindern die Chance auf einen Schulabschluss, auf einen Beruf, letztlich auf ein gutes Leben." Seit zwanzig Jahren beobachtet Hilde Benninghoff-Giese, dass Kinder und Jugendliche aus der stationären Jugendhilfe im deutschen Schulsystem benachteiligt werden. "Die Inklusion mit ihrem Anspruch, alle Kinder gemeinsam zu unterrichten, ohne das  System Schule entsprechend ausstatten, hat es für die sowieso durch die Lebensumstände benachteiligten Kinder und Jugendlichen in vielen Fällen nicht besser gemacht", so die Sozialpädagogin.

Zwei Grundschulkinder schreiben in ein Heft

Schule - Das bedeutet nicht nur zu lernen, sondern auch Freundschaften zu schließen.

Mindestens 8.000 Schüler betroffen

Gut 12 Prozent der stationär untergebrachten Kinder und Jugendlichen besuchten im vergangenen Jahr weniger als 15 Stunden pro Woche die Schule. Das zeigt eine aktuelle Umfrage der Diakonie RWL unter ihren 140 Einrichtungen mit rund 10.000 Plätzen. Je älter die Schülerinnen und Schüler waren, umso häufiger wurden sie vom Unterricht ausgeschlossen. Hochgerechnet auf alle in der stationären Erziehungshilfe in NRW untergebrachten Kinder und Jugendlichen sind mindestens 7.800 Schülerinnen und Schüler betroffen.

Die Dunkelziffer liegt jedoch höher. "Wir gehen davon aus, dass sehr viel mehr Kinder und Jugendliche nicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Zahl an Unterrichtsstunden kommen", sagt Tanja Buck, Referentin für Erzieherische Hilfen bei der Diakonie RWL. "Schließlich gibt es noch viele Familien, die keine oder nur ambulante erzieherische Hilfen in Anspruch nehmen." Während die Pädagogen in den diakonischen Wohngruppen oft versuchten, die betroffenen Kinder und Jugendlichen mit internen Förderangeboten aufzufangen, seien sie in ihren Familien meist sich selbst überlassen.

Bild: Tanja Buck

Setzt sich für mehr Personal in der stationären Jugendhilfe ein: Diakonie RWL-Referentin Tanja Buck  (Foto: Diakonie RWL)

Zu wenig Lehrer, zu große Klassen

Schon 2016 hatte die Diakonie RWL in einer Abfrage unter ihren Einrichtungen festgestellt, dass insbesondere Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt "Emotionale und soziale Entwicklung" nicht ausreichend in Regel-, aber auch Förderschulen beschult werden. Obwohl seitdem mehr Geld in die schulische Inklusion geflossen ist – allein für das Schuljahr 2019/20 investiert das Land dafür rund 1,9 Milliarden Euro – hat sich die Situation nicht verbessert. Zu wenig Sonderschullehrer und zu große Klassen führen dazu, dass die auffälligsten Schülerinnen und Schüler "beurlaubt" werden.

Als Gründe führen die Schulen ein zu herausforderndes Verhalten gegenüber Lehrern und Mitschülern an, mangelnde Konzentration oder auch die Tendenz zum Weglaufen. "Über die Beurlaubung, die in der Summe sogar mehrere Monate pro Jahr andauern kann, wird die Bezirksregierung als Schulaufsicht oft nicht informiert", beobachtet Tanja Buck.

Zwei Grundschüler mit Globus

Mit entsprechender Unterstützung können auch schwierige Schüler wieder für den Unterricht fit gemacht werden.

Schule und Jugendhilfe besser verzahnen

Als größter Träger von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen in NRW appelliert die Diakonie RWL nun in einem Brief an Landesschulministerin Yvonne Gebauer, eine bessere Kooperation von Schul- und Jugendhilfe zu ermöglichen. Schließlich finanzieren die Jugendämter zahlreiche Zusatzleistungen und Integrationshelfer.

"Die Schulen sollten verpflichtet werden, in schwierigen Einzelfällen mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten", so Buck. Hilde Benninghoff-Giese wünscht sich, dass die Landesregierung auch die Expertise der Freien Wohlfahrtspflege stärker nutzt. "Es gibt gute Modellprojekte, in denen besonders auffällige Kinder und Jugendliche befähigt werden, wieder am Unterricht teilzunehmen." 

In Hilden hat die Bergische Diakonie an einer öffentlichen Förderschule eine "soziale Gruppe" für sechs Kinder eingerichtet. Die Pädagogen kümmern sich zudem um die Familien. In der Förderschule der Stiftung Hephata in Mönchengladbach gibt es kleine Projektklassen für besonders schwierige Schülerinnen und Schüler zwischen 11 und 18 Jahren. "Wir haben gute Ideen und Netzwerke, von denen die öffentlichen Schulen profitieren können."

Text: Sabine Damaschke, Fotos: pixabay