Modellprojekt stationäre Erziehungshilfe
Vater Sjerdan hilft gerne bei den Hausaufgaben
Im Sommer 2010 stand Srdjan einfach vor der Tür einer Kinderwohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land in Remscheid. Der serbische Vater einer damals siebenjährigen Tochter wollte wissen, wie ein deutsches Kinderheim aussieht und ob Valentina dort gut aufgehoben wäre. "Das hatte ich in meinen langen Berufsjahren als Pädagoge der stationären Erziehungshilfe noch nicht erlebt", erzählt Rainer Siekmann. "Ein Vater, der einfach vorbeikommt, weil er uns als Partner versteht." Es war der Beginn einer neuen Form der Zusammenarbeit.
Vom verängstigten zum selbstbewussten Teenager
Seit sechs Jahren lebt Valentina nun in der Kinderwohngruppe. Als das Jugendamt sie aus der Obhut ihrer psychisch-kranken Mutter nahm, sei sie deutlich entwicklungsverzögert gewesen, sagt der 43-jährige Pädagoge. Sie wirkte massiv verstört und verängstigt. Viele Anforderungen des alltäglichen Lebens konnte sie nur mit intensiver Hilfe und Begleitung lösen und erlernen. Heute entwickelt sie sich zu einer selbstbewussten Jugendlichen. Srdjan besucht sie fast jeden Tag. Er spielt mit ihr, hilft ihr bei den Hausaufgaben, geht mit ihr einkaufen und kocht mit ihr für die Wohngruppe, in der neun Kinder im Alter zwischen acht und 15 Jahren leben. "Die Gruppe ist nicht nur Valentinas Familie, auch ich fühle mich hier zuhause", sagt der 43-jährige geschiedene Vater.
Valentina fühlt sich wohl in der Wohngruppe
Sein Einsatz zeigt, dass möglich ist, was viele Pädagogen in der stationären Erziehungshilfe lange Jahre für unmöglich hielten: Eltern erfolgreich an der Erziehung von Heimkindern zu beteiligen. Welche Möglichkeiten es dafür gibt und wie die Zusammenarbeit gelingen kann, untersucht ein Modellprojekt der Diakonie RWL seit zwei Jahren in neun Einrichtungen. Eine davon ist die Evangelische Jugendhilfe Bergisch-Land. Im Mai sollen die Ergebnisse des zum Abschluss des Projekts präsentiert werden.
Zauberwort unter Vorbehalt: Elternpartizipation
Elternpartizipation heißt das Zauberwort, das in der stationären Erziehungshilfe Türen öffnen soll, die lange verschlossen waren. Zwar sei heute unter den Fachleuten unumstritten, dass Eltern von Heimkindern für die Erziehung fit gemacht werden müssten. "Das können sie am besten im Umgang mit ihren Kindern lernen", ist Siekmann überzeugt. Aber es gebe viele Vorbehalte und Ängste, die Eltern in den Wohngruppen willkommen zu heißen. Schließlich habe das Jugendamt die Kinder meist aus gutem Grund aus den Familien genommen. "Daher werden sie leider eher als Menschen wahrgenommen, die Probleme verursachen denn als Vater oder Mutter, die durchaus Kompetenzen mitbringen."
Fast alle Eltern haben nach Siekmanns Erfahrung ein starkes Interesse daran, dass es ihren Kindern in den Einrichtungen gut geht und möchten sie irgendwann wieder nach Hause holen. "Auch die Kinder haben den Wunsch, wieder zurück zu ihrer Familie zu gehen." Der Pädagoge, der inzwischen Fachbereichsleiter für die Kindergruppen der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land ist, sieht die Aufgabe der Erziehungshilfe deshalb darin, beide Teile der Familie zu einem friedvollen und förderlichen Zusammenleben zu befähigen.
Rainer Siekmann (l.) will Eltern fit machen für den Umgang mit ihren Kindern
Die Kinder, so erzählt er, entwickelten sich in den Gruppen meist recht schnell zu sozial kompetenten und selbstbewussten Persönlichkeiten. Sie lernten, Konflikte friedlich zu lösen, verantwortlich und selbstständig zu handeln. "Wenn sie meist nach ein oder zwei Jahren wieder zu ihren Eltern zurückgehen und treffen auf die gleiche Familiensituation wie vor der Inobhutnahme des Jugendamtes, kommt es erneut zu Konflikten."
Erziehungskompetenz wieder erlernen
Deshalb setzt Siekmann auf Elternpartizipation. Hoffnungslose Fälle gibt es für ihn kaum. "Familien, in denen Gewalt und sexueller Missbrauch an der Tagesordnung sind und bleiben, gehören für mich dazu. Da müssen wir die Kinder vor den Eltern schützen, aber das kommt seltener vor, als man denkt." Den allermeisten Eltern fehle nicht der Wille, sich für das Wohl ihrer Kinder einzusetzen, sondern die Fähigkeit. Ihre Erziehungskompetenz sei oft durch Erkrankungen, Arbeitslosigkeit, Armut oder Schicksalsschläge verloren gegangen und müsse wieder aktiviert werden.
Im Modellprojekt werden verschiedene Möglichkeiten erprobt, wie Eltern für die Erziehung ihrer Kinder stark gemacht werden können. In der Kinderwohngruppe in Remscheid teilen sie den Alltag mit ihren Kindern und dürfen immer zu Besuch kommen. Andere Einrichtungen haben Hospitationen für Eltern ermöglicht, damit sie das Leben in den Wohngruppen ihrer Kinder besser kennen- und verstehen lernen oder einen Elternbeirat gegründet, in dem sie über die Gestaltung des Zusammenlebens in den Gruppen mitentscheiden. In der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land wird demnächst ein Elterncafé eingerichtet, damit die Eltern sich untereinander und gemeinsam mit den Fachkräften austauschen können. So lernen sich beide Seiten besser kennen und können gegenseitige Bedenken abbauen.
Manchmal kocht Sjerdan auch für alle Kinder
"Alle lieben ihre Kinder"
Im Laufe des zweijährigen Modellprojekts fanden zahlreiche überregionale Workshops statt, in denen Pädagogen und Eltern miteinander diskutierten – oftmals ohne zu wissen, wer eigentlich welche Funktion hat. "Das war ein echtes Aha-Erlebnis für mich", gibt Rainer Siekmann zu. "So manches Mal dachte ich, dass eine Fachkraft vor mir steht, dabei war es ein Elternteil." Diese Erfahrung bestätigte seine Meinung, dass auch diese Väter und Mütter "Experten für ihr Kind" sind.
"Selbst wenn in unseren Familien viel falsch gelaufen ist, lieben wir doch alle unsere Kinder", betont Srdjan – und spricht damit für die anderen Eltern, die er durch das Modellprojekt kennengelernt hat. Er wünscht sich, dass die Fachkräfte in der Erziehungshilfe dies anerkennen und den Eltern auf Augenhöhe begegnen. Nur so könne Vertrauen auf beiden Seiten wachsen. "Rainer Siekmann hat mich immer ernst genommen", sagt der 43-jährige Serbe. "Er hätte auf Besuchszeiten bestehen und mich wegschicken können, wenn ich einfach vor der Tür stand. Aber er hat nach seinem Herzen gehandelt."
Sabine Damaschke