15. Juni 2015

Kritik an Jugendhilfestrukturen

Der Fluch der Volljährigkeit

Volljährig zu sein heißt noch lange nicht, ohne Hilfe alleine leben zu können. Doch genau das wird von Jugendlichen erwartet, die in Wohngruppen, Heimen oder Pflegefamilien aufwuchsen. Mit ihrem 18. Geburtstag sind sie von nahezu allen weiterführenden Hilfen abgeschnitten. Deshalb laufen laut einer aktuellen Studie etwa 20.000 Jugendliche Gefahr, ganz aus den sozialen Hilfestrukturen herauszufallen. Auf einer Fachtagung der Diakonie RWL forderten Erziehungsexperten jetzt, die Übergänge zwischen den Hilfesystemen nachhaltiger zu gestalten.

22 Jahre ist Patrick alt, aber ein Zuhause hat er schon lange nicht mehr. Mit 16 Jahren packte er seine Tasche und zog zu Freunden, machte noch seinen Realschulabschluss und pendelte dann jahrelang zwischen vier Städten im Rheinland hin und her – je nachdem, wo er gerade übernachten und essen konnte. „Ich bin zehn Stunden am Tag Bahn gefahren“, erzählt Patrick. „Bis ich wegen Schwarzfahrens in die Justizvollzugsanstalt kam.“ Dort traf er dann eine Sozialarbeiterin, die ihm endlich sagen konnte, wo junge Erwachsene wie er Hilfe bekommen.

Übergänge zwischen Hilfesystemen gestalten

Seit einem halben Jahr lebt der 22-Jährige nun im Friedrich-Naumann-Haus der Düsseldorfer Diakonie. Gemeinsam mit 24 weiteren jungen Männern zwischen 18 und 25 Jahren lernt er wieder einen geregelten Tagesablauf kennen, trainiert soziale Umgangsformen, bekommt Unterstützung bei der Beantragung von staatlichen Leistungen. Was er durchgemacht hat, sollte anderen jungen Erwachsenen erspart bleiben, meint Patrick. Deshalb interessiert er sich für die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen, in denen die Jugendhilfe arbeitet und genau deshalb ist er zur Fachtagung der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe gekommen.

Unter dem Titel „Junge Volljährige in und nach der Hilfe zur Erziehung“ diskutierten rund 100 Jugendexperten darüber, wie die Übergänge zwischen den Hilfesystemen so gestaltet werden können, dass junge Erwachsene nicht plötzlich herausfallen und in Arbeits- und Obdachlosigkeit oder Drogenkarrieren abrutschen. Einer neuen Studie des Deutschen Jugendinstituts zufolge droht genau das rund 20.000 Jugendlichen in Deutschland.

25 Prozent obdachlose Jugendliche

„Es ist erschreckend, wie viele junge Menschen aus der stationären Jugendhilfe später in der Wohnungslosenhilfe auftauchen“, berichtete Dirk Redemann, der viele Jahre bei der Diakonie Düsseldorf eine Einrichtung für wohnungslose Männer geleitet hat. Insgesamt machten junge Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahren nur etwa sieben Prozent der deutschen Bevölkerung aus, aber in dieser Altersklasse gebe es inzwischen 25 Prozent obdachlose Menschen, so Redemann. „Das Problem ist seit zwanzig Jahren bekannt, es gab und gibt endlose Gespräche mit Politikern, Initiativen und Programme, aber es bewegt sich nichts nach vorne.“

Eine Kritik, die auch von Michael Walde vom Fachverband Erzieherische Hilfen der Diakonie RWL aufgegriffen wurde. „Statt ständig neuer Modellprojekte brauchen wir Hilfen aus einer Hand.“ Schließlich hätten junge Erwachsene bis zum Alter von 27 Jahren durchaus ein Recht auf Unterstützung im Rahmen der Jugendhilfe, allerdings handele es sich bis zum 21. Lebensjahr um eine „Soll-" und bis zum 27. Lebensjahr um eine "Kannvorschrift“, die in der Praxis kaum angewendet werde. „Wir brauchen die Chance einer Wiederaufnahme von jungen Erwachsenen in die bestehenden Hilfsangebote der Jugendhilfe.“

Roxan Krummel

Roxan Krummel

Altersgrenze bei 25 Jahren ansetzen

Anke Burmeister von der Beratungsstelle für arbeitslose Jugendliche im Jugend-Job-Center Düsseldorf plädierte dafür, Jugendlichen aus der stationären Erziehungshilfe eigene Beratungsstellen anzubieten, „in denen man ihre Fragen beantwortet und ihnen hilft, an ihre erste eigene Wohnung zu kommen.“ Nur so könne der „Verschiebebahnhof der Zuständigkeiten“ zwischen Jugendhilfe, Jobcenter und Bafögamt aufhören.

Einig waren sich die Tagungsteilnehmer, dass die Hilfe und Hilfeplanung in eine Begleitung der jungen Erwachsenen bis zum 25. Lebensjahr überführt werden sollte. Denn reif für ein selbstständiges Leben seien Jugendliche heute nur selten mit 18 Jahren. Im bundesweiten Durchschnitt verließen sie erst mit 25 Jahren das Elternhaus, hieß es.

„Von uns aber verlangt man, dass wir uns direkt mit 18 Jahren eine Wohnung suchen, Anträge stellen und unsere Finanzen alleine regeln können“, kritisierte Roxan Krummel vom Verein Careleaver. Die Dortmunder Studentin hat sich dort gemeinsam mit anderen ehemaligen Pflege- und Heimkindern vernetzt und kämpft für eine längere Unterstützung durch die Jugendhilfe. „Nach all dem, was wir durchgemacht haben, brauchen wir noch Schutz und Hilfe, wenn wir unser Leben selber gestalten“, sagte sie und mahnte: „Wir wollen keine Niemandskinder sein.“

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