Kinderrechte im Heimalltag
Nach dem Mittagessen an einem Sonntag Ende November ist es endlich soweit: Zum ersten Mal laden die Jugendlichen die erste Version der neuen "Justy"-App auf ihre Smartphones und fangen an, sich durchzuklicken. Die Jugendlichen, die an diesem Tag einen Blick in die App werfen dürfen, haben schon seit einiger Zeit indirekt daran mitgewirkt. Sie alle leben in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe und konnten ihre Ideen und Wünsche bei der Entwicklung der App einbringen – in Interviews oder Workshops wie an diesem Wochenende.
Das "Justy"-Projekt läuft bereits seit Januar. Der Fokus liegt auf Kinderrechten und Teilhabe. Deshalb arbeiten die Jugendlichen auch aktiv daran mit. Beim Workshop im November geht es um die verschiedenen Kinderrechte, aber auch darum, wie diese gut vermittelt werden können.
Alexander Hundenborn, Referent im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen der Diakonie RWL, leitet das Projekt "Justy"-App und hat die Jugendlichen während des Workshops begleitet.
Kommunikation im Chat
Ein Weg der Vermittlung soll die "Justy"-App sein. Sie soll Jugendliche informieren, ihnen aber auch Wege aufzeigen, über die sie melden können, wenn etwas mal nicht so läuft wie es soll. Die Idee dazu entstand bereits vor einigen Jahren. Damals wurde festgestellt, dass viele Jugendliche die klassischen Beschwerdewege nicht umfänglich kennen oder nicht nutzen.
"Die Meldungen an die Ombudschaft kamen in der Vergangenheit eher selten von den Jugendlichen selbst, sondern häufiger von deren Eltern oder anderen Angehörigen", sagt Alexander Hundenborn, Referent im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen der Diakonie RWL und Projektleiter der "Justy"-App. Die Ombudschaft Jugendhilfe NRW e.V. ist die externe unabhängige Beschwerdestelle im Land. Zuletzt hat sich das Verhalten der jungen Menschen verändert: Sie haben sich verstärkt selbst an die Ombudschaft gewendet. Dennoch, so Hundenborn weiter, könne "Justy" eine gute, jugendaffine Erweiterung des Kontaktaufbaus sein und die wichtige Institution der Ombudschaft noch bekannter machen.
Wie können Beschwerden zeitnah bei den richtigen Ansprechpersonen ankommen? Die Jugendlichen haben im Workshop mögliche Wege aufgezeichnet.
Chatbot als Navigator
Die gibt es jetzt auch in der "Justy"-App. "Der Chatbot ist im Moment noch sehr 'dumm'", sagt Entwickler Silvio Kühn von der Firma beemo GmbH, die die App für die Diakonie entwickelt. Das Tool sei noch in einer frühen Phase. Später soll der Chatbot einmal helfen, als Beschwerdenavigator die richtige Anlaufstelle zu finden. "Wie geht es dir?", fragt er zuerst. Außerdem, wie alt man ist und ob man Rat oder Information sucht oder eine Beschwerde loswerden will.
Nutzende können auf alles antworten wie in einem normalen Chat, ihr Anliegen eintippen und auswählen, ob sie eine Ansprechperson innerhalb oder außerhalb ihrer Einrichtung brauchen. Diese erste Einordnung wird an eine entsprechende Person weitergeleitet, die dann statt dem Chatbot am anderen Ende sitzt und auf die Sorgen und Fragen der Jugendlichen eingeht.
Fachkräfte und Jugendliche haben sich im Workshop zu ihren Perspektiven auf die Kinderrechte ausgetauscht.
Mehr Transparenz
Durch die neue Kontaktmöglichkeit soll auch mehr Transparenz entstehen. "Die Jugendlichen bekommen dort schnelles Feedback und wissen, dass sie gehört worden sind", sagt Alexander Hundenborn.
Bislang fühle es sich aus Sicht der Jugendlichen bei Beschwerden oder Anliegen manchmal so an, als wäre die Meldung überhaupt nicht angekommen. Wie es dann mit ihrem Anliegen weitergehe und ob sich jemand darum kümmere, wüssten sie eine ganze Zeit lang nicht, berichten die jungen Menschen, beispielsweise auch in Interviews mit der FH Dortmund. In Form einer wissenschaftlichen Begleitung durch Prof. Dr. Nicole Knuth und Marius Biele (FH Dortmund) werden in Befragungen und durch Dokumentationen wichtige wissenschaftliche Hinweise aufbereitet, die in die Konzeption und Entwicklung maßgeblich mit einfließen.
Nila ist 16 Jahre alt und findet die Testversion der App auf Anhieb gut. "Bisher hatte ich noch nie eine Beschwerde. Aber sollte ich mal eine haben, würde ich die App sicher nutzen", sagt sie. Auch Tyler hat Spaß beim Testen und findet: "Ich werde die App sicher verwenden, wenn ich sie mal brauche." Nila hat aber noch einen Hinweis. Die Worte "extern" und "intern" könnten für manche unverständlich sein. "Nicht jeder hat schon so einen großen Wortschatz", sagt sie.
Im Workshop zur "Justy"-App haben die Teilnehmenden auch Rollenspiele gemacht.
Viele Bilder, wenig Text
Beschwerden oder Fragen, die die Jugendlichen beschäftigen, drehen sich oft um ihre Rechte in den Einrichtungen. Wer darf eigentlich in mein Zimmer? Und darf der Betreuer mir zur Strafe das Smartphone wegnehmen? In der App sollen Informationen und Kontaktmöglichkeiten ineinander greifen. Der erste Menüpunkt nach Öffnen der App heißt "Deine Rechte". Dort finden die Jugendlichen viele Infos zu den Rechten, die sie schon haben.
Wichtiger Hinweis der Jugendlichen im Workshop: Nicht zu viel Text, lieber mehr Bilder. Sodass man nicht von einer Textwüste überfordert werde. Weil die App auch barrierearm sein soll, gibt es schon jetzt eine Vorlesefunktion.
Marius Biele von der FH Dortmund stellt der Gruppe die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begeitung vor.
Spielerisch erlebbar
Um Infos spannender zu verpacken, soll die App auch Möglichkeiten bieten, sie spielerisch erfahrbar zu machen. In der App gibt es dafür zum Beispiel eine Augmented Reality-Funktion. In der Einrichtung könnten später QR-Codes aufgehängt werden. Scannt man die mit der App, öffnen sich Informationen – wie bei einer Art Schnitzeljagd. Wie sie die App verwendet, entscheidet die jeweilige Einrichtung später selbst. Auch deshalb ist es wichtig, die Nutzenden – Jugendliche wie Betreuende – rechtzeitig mit einzubeziehen.
Wo gelten die Kinderrechte? Die Teilnehmenden des Workshops tauschen sich über ihre Erfahrungen aus.
Wichtiges Feedback
Das App-Projekt läuft insgesamt fünf Jahre. Am Ende soll "Justy" bundesweit verfügbar sein. Bis dahin können viele Elemente noch verändert und angepasst werden. Dann durchläuft die App mehrere Testphasen. Das bedeutet, dass sie in den sieben ausgewählten Einrichtungen, in denen die Jugendlichen jetzt schon am Projekt beteiligt sind, im Laufe des nächsten Jahres im Alltag auf die Probe gestellt wird. Denn ganz besonders wichtig ist natürlich das Feedback derer, denen die App später helfen soll: Kinder und Jugendliche.
Text: Carolin Scholz, Fotos: Alexander Hundenborn, Shutterstock
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