Initiative "Wir sind doch keine Heimkinder!"
Leonora ärgert es, dass die Eltern ihrer Schulkameraden so schlecht über "Heimkinder" denken.
Im Flur der Wohngruppe "Talamod" in Hilden steht die zehnjährige Leonora vor der Tafel mit den "Wutquatschwörtern". Hier darf jeder seine Wut rauslassen, indem er verrückte Schimpfwörter aufschreibt. Gründe wütend zu sein, hat Leonora genug. Sie lebt hier mit sechs anderen Kindern, die in ihren Familien Schlimmes erlebt haben. Hier ist jetzt ihr Zuhause, in das sie gerne auch mal Schulkameradinnen einladen würde. Doch die kommen nur selten.
"Die Eltern haben Angst, dass wir austicken und ihren Kindern dann was antun", erzählt sie. "Die reden, als wenn wir der Teufel wären." Der 13-jährige Manuel gibt zu, dass er sich deshalb schon in der Schule geprügelt hat. Und die 14-jährige Leonie verschweigt am liebsten ganz, dass sie in einer Wohngruppe lebt. "Ich habe Angst, dass ich dann ausgeschlossen werde. Deshalb weiß das eigentlich nur meine Familie."
Ein Film als Einstieg zum Umdenken
Hartnäckig hält sich in der deutschen Gesellschaft das Bild vom schwer erziehbaren, aggressiven und armen Heimkind. Ein Begriff, den Fachleute in der Jugendhilfe nur selten verwenden, weil sich dahinter jede Menge Vorurteile und Klischees verbergen.
Dennoch benutzt ihn die Graf Recke Stiftung jetzt bewusst, um mit ihrer Initiative "Wir sind doch keine Heimkinder!" in eine Diskussion mit Betroffenen, ihren Angehörigen und dem gesellschaftlichen Umfeld zu kommen.
Die Diakonie RWL, die als größter Träger der Kinder- und Jugendhilfe in NRW knapp 150 Einrichtungen vertritt, unterstützt die Initiative und lädt kirchliche Träger und Einrichtungen ein, sich daran zu beteiligen. Kernstück der Kampagne ist ein 52-minütiger Film, der am Donnerstag in Düsseldorf Premiere feiert. Dort kommen die Kinder und Jugendlichen der Wohngruppe "Talamod" ebenso zu Wort wie ehemalige "Heimkinder", Erzieher, Eltern und Verantwortliche der Graf Recke Stiftung.
Alex will allen zeigen, "wie Heimkinder wirklich ticken".
Erwünscht: Breite gesellschaftliche Debatte
"Die Leute wissen gar nicht, wie wir leben. Mit unserem Film möchten wir der Öffentlichkeit zeigen, wie Heimkinder wirklich ticken", betont Alex, der Vorsitzender des Kinder- und Jugendrates der Graf Recke Stiftung ist. Der Dokumentarfilm der WDR-Journalistin Anke Bruns soll auch in Schulen, Jugendzentren, Kirchengemeinden oder Volkshochschulen gezeigt werden. Mit Fachtagen und Diskussionsveranstaltungen wollen die Initiatoren in diesem Jahr eine breite gesellschaftliche Debatte über Heimerziehung anstoßen. Materialien dafür gibt es auf einer eigenen Webseite.
Bewusst kommen in dem Film auch ehemalige Heimkinder der Graf Recke Stiftung zu Wort. "Das Thema begleitet viele diakonische Träger – als Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und in der Gegenwart als Verpflichtung zu bestmöglicher pädagogischer Betreuung und Begleitung", betont der Theologische Vorstand der Graf Recke Stiftung, Pfarrer Markus Eisele.
Auf den Spuren ihrer Vergangenheit als "Heimkinder": Herbert Schneider und Ilse Fetzer reden im Film erstmals über das Unrecht, das ihnen in ihrer Kindheit angetan wurde.
Das Schweigen brechen
Ilse Fetzer und Herbert Schneider, die in den 1960er Jahren im Kinderheim "Neu-Düsseltal" lebten, haben dort unter den autoritären und gewalttätigen Erziehungsmethoden gelitten. Das Heim sei für sie wie ein Gefängnis gewesen, erzählt Ilse Fetzer. "Ich habe dort einen richtigen Knacks bekommen", sagt Herbert Schneider.
Auch Jakob Nüßgen, der in den 1980er Jahren in einem Heim der Graf Recke Stiftung wohnte, berichtet noch von einer Erziehung der Härte und Gewalt. Nach vier Jahren durfte er die Gruppe wechseln. Endlich traf er dort einen Erzieher, der ihn verstand und ermutigte und den er heute noch wie einen Vater liebt. Im Gegensatz zu Ilse Fetzer und Herbert Schneider hat er immer offen darüber gesprochen, dass er im Heim groß geworden ist. "Dieser Erzieher hat mir beigebracht, dass ich für das, was ich möchte, kämpfen muss", sagt er.
Ruhe bewahren - Erzieherin Angela Babbaro mit Albert, der wütend vom Tisch aufsteht.
Zuwendung statt Strafe
Genau dazu sollen die Kinder und Jugendlichen in den Wohngruppen heute ermutigt werden. Anderen selbstbewusst, aber auch respektvoll zu begegnen trotz all der schlechten Erfahrungen, die sie in ihrem Leben schon gemacht haben – das ist keine einfache Sache. Der Film verschweigt daher nicht, wie anspruchsvoll die "Heimerziehung" heute ist.
Angela Babbaro, Leitern der Tamalod-Wohngruppe, wird mit einem Jungen gezeigt, der traurig und aggressiv ist. Statt mit Schimpfe und Strafe reagiert sie mit Zuwendung und Entspannungstipps. Wie sie "deeskalieren", Kinder und Jugendliche in Entscheidungen einbeziehen und sprachfähig machen kann, lernt sie heutzutage schon in ihrer Ausbildung und in Fortbildungen.
Ein Gremium der Mitbestimmung: Kinder- und Jugendrat der Graf-Recke-Stiftung
Mehr Mitbestimmung, mehr Offenheit
"Partizipation" lautet das Stichwort, mit dem die Diakonie RWL schon seit einigen Jahren in den diakonischen Einrichtungen unterwegs ist. Sie unterstützt ihre Mitglieder bei der Entwicklung neuer Beteiligungs- und Beschwerdekonzepte für die Kinder und Jugendlichen sowie für Eltern.
Tim Rietzke, Leiter des Geschäftsfeldes "Familie und junge Menschen" bei der Diakonie RWL, fordert die Einrichtungen auf, mehr nach außen zu tragen, was sich in der sogenannten "Heimerziehung" verändert hat. "Wir müssen offener und offensiver werden. Die Initiative ist dazu ein guter und mutiger Schritt."
Text: Sabine Damaschke, Fotos: Anke Bruns/Graf-Recke-Stiftung
Die Graf Recke Stiftung
Kurzversion des Films "Wir sind doch keine Heimkinder!"
Hilfen zur Erziehung
In Deutschland leben nach Angaben der Graf Recke Stiftung etwa 1,7 Millionen Menschen mit sogenannter "Heimerfahrung". Mehr als 100.000 Kinder und Jugendliche befinden sich derzeit in Heimen und Wohngruppen der stationären Jugendhilfe. In NRW sind es knapp 25.000. Die Diakonie RWL vertritt als größter Träger der Kinder- und Jugendhilfe in NRW knapp 150 Einrichtungen mit rund 10.000 Plätzen.