1. Juni 2016

Hilfen zur Erziehung

Im Heim statt in der Schule

Immer mehr Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus Einrichtungen der Jugendhilfe werden in Nordrhein-Westfalen nur unzureichend beschult. Dies hat eine aktuelle Umfrage der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe unter ihren Einrichtungen der Erzieherischen Hilfen ergeben. Der Grund: Es fehlen Sonderpädagogen.

Junge sind auf Bank

Foto: schemmi/pixelio.de

Gut ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, die in Heimen und Wohngruppen leben, haben einen Förderbedarf. In ihrer Umfrage hat die Diakonie RWL festgestellt, dass etwa zwei Drittel von ihnen nur stundenweise am Unterricht teilnehmen oder gar über Wochen davon beurlaubt werden. Dies betrifft insbesondere Kinder und Jugendliche, die Schulen mit dem Förderschwerpunkt "Emotionale und soziale Entwicklung" besuchen, aber auch Schüler mit Förderbedarf an Regelschulen.

"Die Inklusion an den Schulen in NRW geht derzeit zu Lasten von Kindern und Jugendlichen mit hohem sonderpädagogischem Förderbedarf", kritisiert die Leiterin des Geschäftsbereichs Familie, Bildung und Erziehung der Diakonie RWL, Helga Siemens-Weibring. "Sie werden vom Unterricht ausgeschlossen, weil nicht nur die Lehrer an Regel-, sondern zunehmend auch an Förderschulen mit ihnen überfordert sind."

Größere Klassen, weniger Sonderpädagogen

Bild: Tanja Buck

Setzt sich für mehr Personal in der stationären Jugendhilfe ein: Diakonie RWL-Referentin Tanja Buck  (Foto: Diakonie RWL)

An der Befragung der Diakonie RWL haben 31 Einrichtungen der Erzieherischen Hilfen, die Plätze für 3.335 Kinder und Jugendliche anbieten, teilgenommen. Davon besuchten 1.023 Kinder und Jugendliche eine Förderschule, 108 eine inklusive Regelschule. 180 Schüler wurden nur bis zu 15 Stunden in der Woche beschult, 608 Schüler zwischen einer und mehr als vier Wochen vom Unterricht ausgeschlossen.

"Es ist nicht neu, dass Kinder und Jugendliche aus der Heimerziehung, die soziale und emotionale Schwierigkeiten haben, zeitweise von der Schule beurlaubt werden", erklärt die Referentin für Erzieherische Hilfen der Diakonie RWL, Tanja Buck. "Doch seitdem sich die Schüler-Lehrer-Relation für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung verschlechtert hat und mehr Sonderpädagogen von Förder- an Regelschulen abgezogen werden, tritt das Problem häufiger auf." Nach Angaben der Lehrergewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist derzeit die Hälfte der Förderschulen in NRW gezwungen, größere Klassen mit mehr als 20 Kindern zu bilden, weil sie die Versetzung von Sonderpädagogen an andere Schulen verkraften müssten.

Buck sieht für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine "doppelte Benachteiligung". Sie lebten bereits ohne ihre Familie in einer Einrichtung. Wenn sie nicht in die Schule gehen könnten, verlören sie zudem noch ihre Tagesstruktur, der Anschluss an das soziale Umfeld außerhalb der Wohngruppe werde erschwert und die Chance auf einen Schulabschluss verringere sich deutlich. "Hier werden individuelle Lebens- und Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen verschlechtert, die im Rahmen der Inklusion eigentlich verbessert werden sollten."

Ein Recht auf den Schulbesuch

Porträtfoto

Helga Siemens-Weibring

Die Diakonie RWL fordert daher die Einstellung von mehr Sonderpädagogen und sonderpädagogische Fortbildungen für Lehrer. "Grundsätzlich unterstützen wir die Inklusion, aber dafür müssen die Schulen so ausgestattet sein, dass sie auch tatsächlich inklusiv arbeiten können und kein Kind zurücklassen", betont Helga Siemens-Weibring. Gerade für Kinder und Jugendliche mit hohem sonderpädagogischen Förderbedarf sei auch der Erhalt von Förderschulen mit gut ausgebildetem Personal und kleinen Klassengrößen wichtig. Die Diakonie RWL appelliert daher an die Landesregierung, mehr Mittel für eine angemessene Personal- und Sachausstattung sowohl an inklusiven Regelschulen wie auch an Förderschulen bereitzustellen.

"In Deutschland besteht mit der Schulpflicht auch ein Recht auf den Schulbesuch, das für alle Kinder und Jugendlichen gilt", sagt der Bereichsleiter Kinder- und Familienhilfen bei der Diakonie Michaelshoven in Köln, Henning Spelleken. "Es ist ein nicht zu akzeptierender Zustand, dass dies ausgerechnet im Zuge der Inklusion nicht umgesetzt wird." Zwar betreut die Diakonie Michaelshoven in ihren Wohngruppen kaum Kinder und Jugendliche mit emotionalem und sozialem Förderbedarf, aber dort sind zunehmend auch junge Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung von einer Kurzzeitbeschulung betroffen, wie Henning Spelleken im Interview erzählt.