Heilpädagogik
Der VR-Raum soll ein Ort für spannungsfreie Kommunikation für Eltern und Kinder sein – sie sammeln hier gemeinsam positive Erlebnisse.
Als Max die VR-Brille abnimmt, hat er einen roten Kopf und ein Grinsen auf dem Gesicht. Der 14-Jährige und seine Mutter haben gerade gemeinsam versucht, sich den Weg aus einem antiken griechischen Tempel zu bahnen – eine Art Escape-Room-Spiel in einer virtuellen Welt. VR steht für Virtual Reality, also virtuelle Realität. Von außen wirken die Brillen wie ein Helm. Die Spieler*innen schauen durch zwei Linsen, die den Blick durch ein Fernglas suggerieren. So tauchen sie ab in eine virtuelle Welt, in der sie dank der Controller in ihren Händen greifen, werfen oder anders interagieren können.
Die VR-Spiele sind Teil eines Projekts der heilpädagogischen Tagesgruppen der Diakonie Düsseldorf. Seit 2020 kommen Eltern und Kinder immer wieder in den VR-Raum. Dort können sie zum Beispiel Unterwasserwelten erkunden oder Rätsel lösen wie Max und seine Mutter Karin Fritz.
Vor der ersten gemeinsamen VR-Sitzung treffen die Teamleiter die Eltern alleine.
Eltern und Kinder arbeiten zusammen
"Grundidee ist es, die Technik zu nutzen, um Familien wieder besser in Kontakt zu bringen", sagt Matthias Hainski, Teamleiter einer heilpädagogischen Tagesgruppe. Der VR-Raum soll ein Ort für spannungsfreie Kommunikation für Eltern und Kinder sein – sie sammeln hier gemeinsam positive Erlebnisse. Außerdem sind die Spiele oft kooperativ: Elternteil und Kind müssen also miteinander sprechen und zusammenarbeiten, um Rätsel und Aufgaben zu lösen. Vor der ersten gemeinsamen VR-Sitzung treffen die Verantwortlichen Matthias Hainski und Carina Otto die Eltern alleine. Bei diesem Treffen versuchen sie herauszufinden, welche Spiele für das Kind geeignet sind. Und noch viel wichtiger: Die Eltern probieren die VR-Technik aus und machen sich mit ihr vertraut. So haben sie einen Wissensvorsprung, wenn das erste Spiel mit Kind auf dem Plan steht.
"Die Eltern sollen von ihren Kindern als kompetent wahrgenommen werden", sagt Carina Otto, die eine der Tagesgruppen leitet. Viele hätten weniger Berührungspunkte mit neuer Technik als ihre Kinder. Bei dem ersten Treffen können sie daher schon einmal üben. Für Max und Karin Fritz ist es nicht das erste Mal. Sie gehören zu einer der Familien, die von Anfang an dabei waren.
Es geht im VR-Raum nicht nur um den Spaß am Spiel, sondern auch um die Kommunikation. Das Angebot richtet sich an Kinder in den heilpädagogischen Tagesgruppen und ihre Eltern.
Miteinander kommunizieren
Die virtuelle Welt kann fordernd sein. Anfangs spiele man eher kurze und einfache Spiele und mache viele Pausen. Auch um sogenannter Motion Sickness vorzubeugen – manchen Teilnehmenden wird beim Spielen übel oder schwindlig. Auch die Nachbereitung mit den Pädagog*innen ist wichtig. Sich nach dem Spielen über das Gesehene und Erlebte auszutauschen und wieder in der realen Welt anzukommen. "Am besten fand ich das Bogenschießen", sagt Max dann etwa. Und: "Da am Anfang, da war ich echt verzweifelt."
Matthias Hainski und Carina Otto begleiten Eltern und Kind während des Spiels. Der Raum ist zwar groß, wenn die Spielenden aber sehr vertieft sind, kommt es vor, dass sie sich unbewusst bewegen. Doch die beiden verhindern nicht nur, dass Max und seine Mutter der Wand zu nah kommen, sie erinnern sie auch daran, zu kommunizieren. Auf zwei Bildschirmen können sie das sehen, was auch die Spielenden sehen. "Max, sag doch mal der Mama, wie du das gerade gemacht hast", sagt Matthias Hainski etwa und Max erklärt.
Im VR-Raum spielen die Kinder nicht in ihrer eigenen Welt, sondern teilen die Freude am Spiel mit ihren Eltern. Das können hinterher Anknüpfungspunkte sein, um wieder mehr in Kontakt zu kommen.
Kinder stärken
Denn: Es geht im VR-Raum nicht nur um den Spaß am Spiel, sondern auch um die Kommunikation. Das Angebot richtet sich an Kinder in den heilpädagogischen Tagesgruppen und ihre Eltern. In einer Gruppe werden höchstens sieben Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren von drei studierten Pädagog*innen betreut. Die Kinder, die diese Gruppen besuchen, tun das aus unterschiedlichen Gründen. Manche haben Traumaerfahrungen, manche emotional-sozialen Förderbedarf. Manchmal können sich die Eltern nicht so kümmern, wie sie möchten, weil sie selbst eine psychische Erkrankung haben. Manche der Kinder haben Autismus, Sozial- oder Bindungsverhalten sind gestört oder ihnen fehlt es an Impulskontrolle. Manche haben auch ADS oder ADHS – so wie Max.
Er war von der zweiten bis zur fünften Klasse in einer der Tagesgruppen. Vorher hatte er in der Schule einen Integrationshelfer, doch die Eltern merkten bald, dass er mehr Förderung braucht. "Die Tagesgruppe war für uns wie ein Sechser im Lotto", sagt Karin Fritz. Am Anfang setzen Eltern und Kinder dort ein Ziel, das durch die Betreuung erreicht werden soll. Für Max’ Eltern war es, dass er in der Schule besser klarkommt, vor allem emotional. Viele Eltern von Kindern mit ADHS bekommen aus der Schule sehr viel negative Rückmeldung. "Die Familien sind oft sehr demotiviert, wenn sie zu uns kommen", sagt Tanja Peters, die das Sachgebiet der heilpädagogischen Tagesgruppen der Diakonie Düsseldorf leitet. In der Zusammenarbeit mit Eltern und Kind werde der Blick wieder mehr auf die Stärken und positiven Eigenschaften des Kindes gelenkt.
Die Spieler*innen schauen durch zwei Linsen, die den Blick durch ein Fernglas suggerieren. So tauchen sie ab in eine virtuelle Welt, in der sie dank der Controller in ihren Händen greifen, werfen oder anders interagieren können.
Begrenzte Bildschirmzeit
Das VR-Projekt fügt sich in dieses Vorhaben ein – und ist doch ungewöhnlich. Es gibt bislang noch kaum andere Projekte, in denen VR-Technik im heilpädagogischen Kontext eingesetzt wird. Auch wenn in der pädagogischen Arbeit die Nutzung von Medien nicht pauschal abgelehnt wird, wird sie doch kritisch betrachtet. Die tägliche Bildschirmzeit versuchen Eltern eher zu begrenzen. Auch Max’ Eltern.
Für Karin Fritz ist das gemeinsame Spielen im VR-Raum aber doch anders. "Es ist spannend, mit ihm zusammen in so ein Medium einzusteigen", sagt sie. Max spiele eben nicht allein in seiner eigenen Welt, sondern teile die Freude am Spiel mit seinen Eltern. "Das können schöne Anknüpfungspunkte sein, um wieder mehr in Kontakt zu kommen", sagt Tanja Peters. "Das ist Zeit, die wir nur für uns haben", ergänzt Karin Fritz.
Die Erlebnisse im VR-Raum sind danach oft noch Gesprächsthema. Je regelmäßiger die Termine, desto besser können Matthias Hainski und Carina Otto auch die Entwicklung der Kinder mit ihren Eltern erkennen. "Max war am Anfang immer sehr auf sich konzentriert", sagt Matthias Hainski, "aber mit der Zeit hat er immer mehr auf seine Mutter geachtet und gehört." Was die beiden Verantwortlichen am Projekt aber besonders freut: Alle, die mitmachen, gehen immer mit einem guten Gefühl und einem Lächeln im Gesicht nach Hause. Und können den nächsten Termin kaum erwarten.
Text: Caro Scholz (Diakonie Düsseldorf), Fotos: David Ertl