Erziehungshilfe in der Corona-Pandemie
Wenn Jürgen Schmitz zur Arbeit geht, beschleicht ihn oft ein mulmiges Gefühl. Die Angst, sich mit dem Corona-Virus anzustecken, gehört zu seinem Alltag. Im Wechsel mit einer Kollegin betreut er sechs Kinder im Alter zwischen neun und zwölf Jahren in einer Tagesgruppe der Evangelischen Jugendhilfe Godesheim. Abends gehen die Kinder in ihre Familien. Und unter den Eltern gebe es auch Corona-Leugner, weiß Schmitz. "Ich arbeite gerne", betont der Erzieher. Aber er habe eine chronische Erkrankung. Etwas mehr Sicherheit würden ihm kostenlose regelmäßige Corona-Tests geben, so wie sie seinen Kolleginnen und Kollegen in den Kitas angeboten werden.
Regelmäßige Corona-Tests schaffen Sicherheit, meint Jürgen Schmitz, Erzieher in der Evangelischen Jugendhilfe Godesheim. Er hat eine chronische Erkrankung. Eine Infektion mit dem Corona-Virus wäre für ihn besonders gefährlich.
Keine regelmäßigen Corona-Tests
Doch für die Beschäftigten von Erziehungshilfe-Einrichtungen ist das nicht vorgesehen. "Das bedrückt", sagt der Erzieher. Wichtig wäre aber auch die Möglichkeit, Kinder testen zu lassen, sagt Schmitz. Es komme vor, dass Kinder am einen Tag wegen Erkältungssymptomen zuhause blieben und am nächsten Tag wieder in die Gruppe kämen. Getestet würden sie nicht. "Da macht man sich schon Gedanken."
Anders als etwa bei Lehrern oder Kita-Personal sei es für ihn auch keine Option zu Hause zu bleiben, obwohl er zur Risikogruppe gehöre. Den ganzen Tag Abstand zu halten und Maske zu tragen, sei bei Kindern auch nicht machbar. Denn Schmitz übernimmt tagsüber die Aufgabe eines Elternteils vom Kochen über Hausaufgabenbetreuung bis zu gemeinsamem Spiel.
Puzzeln gegen die Langeweile: Mit Büchern, Spielzeug und kreativen Ideen bemühen sich die Erzieherinnen und Erzieher gegen den "Lagerkoller" anzukommen.
Jugendhilfe wurde völlig vergessen
So wie Schmitz fühlen sich viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erziehungshilfe während der Corona-Pandemie im Stich gelassen. "Die Erziehungshilfe ist ein kleiner Bereich, der völlig vergessen wurde," stellt Harald Schwab fest. Der Geschäftsführer der Evangelischen Jugendhilfe Oberhausen kritisiert nicht nur die fehlenden Test-Möglichkeiten für seine pädagogischen Mitarbeiter. Auch die starren Quarantäne-Regelungen führten in Heimen und stationären Einrichtungen der Jugendhilfe immer wieder zu schwierigen Situationen, sagt Schwab, der auch Sprecher der Oberhausener Facharbeitsgruppe "Hilfen zur Erziehung" ist. Dadurch fielen immer wieder gesunde Mitarbeiter ohne jegliche Symptomatik aus.
Was das bedeutet, hat Ende vergangenen Jahres ein pädagogischer Mitarbeiter aus Schwabs Team erlebt. Seine vier Kolleginnen waren zusammen mit den neun Kindern einer Wohngruppe der Jugendhilfe in Quarantäne geschickt worden. Das Problem: Die Betreuerinnen und ihre Schützlinge durften sich nicht gemeinsam in Isolation begeben. Die Kinder mussten in der Wohngruppe bleiben, während die Erzieherinnen in ihre eigenen Wohnungen verbannt wurden. So habe ihr Kollege, der zufällig gerade aus dem Urlaub kam, die Kinder fast eine Woche alleine rund um die Uhr betreuen müssen, sagt Schwab. Arbeitsrechtlich sei das bedenklich. "Aber wir konnten die Kinder ja nicht einfach sich selbst überlassen." Es sei auch kaum möglich, Ersatzpersonal zu beschaffen.
Ambulante Quarantäne als Rettung: Erzieher können sich dadurch sowohl zuhause als auch an ihrem Arbeitsplatz in der Wohngruppe aufhalten. Doch für viele Gesundheitsämter sei diese Regelung zu aufwändig, vermutet Stefanie Lenger, Pädagogische Leiterin der Ev. Jugendhilfe Godesheim.
Personalnot durch starre Quarantäneregelungen
Dabei gebe es Lösungen, meint Schwab. Die ambulante Quarantäne etwa, die es den Erzieherinnen ermöglicht hätte, sich sowohl zuhause als auch an ihrem Arbeitsplatz in der Wohngruppe aufzuhalten. Doch dazu seien die meisten Gesundheitsbehörden nicht bereit. Ein Grund sei vermutlich der hohe Verwaltungsaufwand, sagt Stefanie Lenger, Pädagogische Leiterin der Evangelischen Jugendhilfe Godesheim. Dabei funktioniere diese Lösung sehr gut, weiß Lenger. Das Gesundheitsamt der Stadt Bonn etwa sei bereit gewesen, einer ambulanten Quarantäne einiger ihrer pädagogischen Mitarbeiter zuzustimmen. "Das hat uns den Alltag gerettet." Doch das sei nicht selbstverständlich, sagt Lenger, die Einrichtungen ihres Trägers in mehreren Kreisen und Städten betreut.
Grundproblem sei, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Heimen und Wohngruppen nicht als systemrelevant eingestuft würden, sagt Tim Rietzke vom Evangelischen Fachverband für Erzieherische Hilfen Rheinland-Westfalen-Lippe, in dem 146 Träger zusammengeschlossen sind. Aus seiner Sicht müssten die pädagogischen Fachkräfte in der Heimerziehung Lehrern oder Erzieherinnen in den Kitas gleichgestellt werden, etwa wenn es um die Möglichkeit regelmäßiger Corona-Tests gehe. "Doch mit dieser Forderung sind wir nicht durchgedrungen." Dabei sei es für die Heim-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ihrer Arbeit schlichtweg unmöglich, durchweg Abstand zu halten und Maske zu tragen.
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Auch bei Schutzimpfungen das Nachsehen?
Jetzt fürchten die Beschäftigten der Erziehungshilfe, auch beim Zugang zu Covid 19-Schutzimpfungen das Nachsehen zu haben. "Wenn wir mit unserer relativ jungen Belegschaft warten, bis die Mitarbeiter als Altersklasse drankommen, dann wird es Sommer werden und die großen Herausforderungen für uns werden zunehmen", fürchtet Schwab. Auch Rietzke fordert bei der Impfung eine Priorisierung der Heim-Erzieherinnen und Erzieher so wie sie auch für die Beschäftigten in den Kitas vorgesehen ist. "Derzeit sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erziehungshilfe aber allen anderen Bürgern gleichgestellt."
Aus Sicht der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege NRW gehören die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe "in die Kategorie der Einrichtungen, in denen mit einer schützenswerten Klientel gelebt und gearbeitet wird." Damit seien sie sehr wohl Kindertageseinrichtungen gleichgestellt. Harald Schwab von der Evangelischen Jugendhilfe Oberhausen ist nach seinen bisherigen Erfahrungen weniger hoffnungsvoll und hat nun NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann um Unterstützung gebeten. Für ihn ist die Angelegenheit dringend: "Wir kümmern uns um hilflose Menschen. Ich kann ja Kinder nicht sich selbst überlassen."
Text: Claudia Rometsch, Fotos: Ev. Jugendhilfe Oberhausen, Ev. Jugendhilfe Godesheim.