11. April 2023

Erziehungshilfe

Geschützter Ort für Jugendliche

Verlässliche Fachkräfte leisten in der stationären Erziehungshilfe wichtige Arbeit – so auch in der Jugendwohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe in Wermelskirchen. Aber die Suche nach qualifiziertem Personal gestaltet sich schwierig. Die Diakonie RWL setzt sich dafür ein, die Rahmenbedingungen für eine gute Kinder- und Jugendhilfe zu verbessern.

  • Jugendliche stehen im Kreis und legen ihre Hände aufeinander.
  • Der Kicker im Flur der Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe in Wermelskirchen.
  • Die Anrichte im Esszimmer der Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe in Wermelskirchen.
  • Kinderhände halten ein Miniatur-Holzhaus.

Shahad kommt gerade vom Mittagsessen. Es gab Reis, Erbsen und Hühnchen. Jetzt läuft das Mädchen die knarrenden Holzstufen hoch. "Hausaufgaben", sagt Shahad und deutet auf ihr Zimmer im ersten Stock. Sie hat den gemütlichen Raum selbst eingerichtet, ihm eine eigene Note gegeben. "Ich bin gerne hier", sagt die 15-Jährige dann, "hier kann ich alleine sein, wenn ich es möchte. Und trotzdem sind immer Menschen für mich da." Vanessa Gallai lächelt und nickt. Genau dieses Gefühl möchten sie und ihr Team den Jugendlichen in der Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land (EJBL) in Wermelskirchen geben. "Wir bieten einen sicheren Raum an", sagt die Teamleiterin. Während sich Shahad an ihre Hausaufgaben macht, kehrt Vanessa Gallai zurück in die Küche zu ihrem Kollegen Kai Hessenbruch. Bis 15 Uhr wird hier das Mittagessen warm gehalten. Noch steht ein ungenutztes Gedeck auf dem großen Holztisch.

Teamleitung Vanessa Gallai und Erzieher Kai Hessenbruch arbeiten in der Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe in Wermelskirchen.

Teamleitung Vanessa Gallai und Erzieher Kai Hessenbruch sind für die jungen Menschen in der Wohngruppe da und verbringen mit ihnen den Alltag.

Mehr als Alltag

Acht Jugendliche wohnen in der alten, bergischen Villa an der Thomas-Mann-Straße in Wermelskirchen. Die Jüngsten sind gerade zwölf geworden, die Ältesten fast volljährig. "Jeder und jede von ihnen bringt eine eigene Lebensgeschichte mit", sagt Erzieher Kai Hessenbruch. Pauschale Antworten gibt es hier nicht. Die einen haben ihr Elternhaus verlassen, weil es für sie unzumutbar wurde, dort zu leben. Bei anderen haben die Eltern oder das Jugendamt entschieden, dass sie einen Ortswechsel brauchen. "Es gibt Jugendliche, die kommen auf Zeit hierher", sagt Vanessa Gallai, "und andere, die werden hier Erwachsene." Sie alle sind willkommen – mit ihren Geschichten und mit ihren Sorgen.

"Unser Alltag läuft eigentlich ganz ähnlich wie im familiären Haushalt ab", erzählt Kai Hessenbruch. Frühstücken, der Aufbruch zur Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, und nachmittags bleibt Zeit für Hobbys und Freunde, bevor sich alle zum gemeinsamen Abendessen treffen und danach auch mal zum Zocken oder zum Brettspiel. "Aber was von außen aussieht wie Alltag, ist natürlich viel mehr", sagt Rainer Siekmann, Fachbereichsleiter bei der EJBL. Hier geschehe Beziehungsarbeit. Und dafür ist jeder der sechs Mitarbeitenden mit voller Kraft im Einsatz – und dafür ist jeder von ihnen ausgebildet.

Ralf Siekmann, Fachbereichsleiter bei der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land (EJBL).

Fachbereichsleiter Rainer Siekmann ist stolz auf sein Team, das "nun eine Erfolgsgeschichte schreibt".

Vielfältiges Team

Erst im vergangenen Jahr hat die EJBL das Team in der Wohngruppe neu besetzt – nachdem Mitarbeitende in den Ruhestand gegangen waren oder den Job gewechselt hatten. "Und dieses Team schreibt nun eine Erfolgsgeschichte", freut sich Siekmann.

Fünf junge pädagogische Fachkräfte und eine Hauswirtschaftskraft haben sich hier zusammengefunden – unter Leitung von Vanessa Gallai. Sie bringen verschiedene Erfahrungen und auch verschiedene Professionen mit. "Und wir vertrauen einander", sagt die Teamleiterin und erzählt vom Teamaufbau, von privaten Treffen und ihrer Philosophie von flachen Hierarchien und einer Begegnung auf Augenhöhe. Die 27-Jährige hat Erziehungs- und Sozialwissenschaften studiert, Kai Hessenbruch ist gelernter Erzieher. "Wir sind sicher, dass diese Vielfalt der Professionen wichtig ist", sagt Rainer Siekmann. Sie ermögliche verschiedene Perspektiven und einen weiten Blick. "Nicht alle gucken in dieselbe Richtung", betont der Fachbereichsleiter. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind "Überzeugungstäter", sagt Siekmann. 

Der Esstisch in der Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe in Wermelskirchen.

Am großen Esstisch kommen die Jugendlichen und das Betreuer-Team zum gemeinsamen Abendessen zusammen.

Leben verändern

"Ohne das geht es auch nicht", ergänzt Kai Hessenbruch, der vor anderthalb Jahren aus einer Kindertagesstätte in die Erziehungshilfe wechselte. "Ich brauchte eine neue Herausforderung", sagt er heute. Und er suchte einen Beruf, in dem er mit Jugendlichen Alltag individuell würde gestalten können – Schichtdienst und der Einsatz am Wochenende hielten ihnen davon nicht ab. "Dieser Beruf hat alles, was ich gesucht habe", sagt er und deutet auf den Lebensraum der Wohngemeinschaft. Manchmal sei es ein Gespräch mit einem Jugendlichen am Esstisch. Dann erzählt der Junge von seiner neuen Freundin und fragt den Erzieher vertrauensvoll nach seinen eigenen Erfahrungen mit wenig Geld für Verabredungen. "Manchmal sind es auch kurze Momente vor dem Schlafengehen", sagt Vanessa Gallai. "Diese besondere Stimmung am Abend, wenn es ganz ruhig wird im Haus, mag ich besonders. Zeit, um sich alles von der Seele zu reden."

Wenn die Jugendlichen Fragen stellen, wenn sie über Perspektiven reden wollen, wenn sie wütend werden oder Traumata aufbrechen, wenn die wichtige Arbeit mit den Familien der Jugendlichen ansteht oder Gespräche mit Jugendamt, Polizei oder beim Elternsprechtag: "Wir sind da", sagt Kai Hessenbruch, "unsere pädagogische Arbeit findet mitten im Alltag statt." Dann gebe es auch "korrigierende Erfahrungen", ergänzt Rainer Siekmann. "So erleben die Jugendlichen zum Beispiel, dass es bei Streit auch andere Lösungsmodelle als Eskalation gibt", sagt der Fachbereichsleiter. Kai Hessenbruch nickt: "Im allerbesten Fall können wir helfen, Leben zu verändern. Es zu verbessern", sagt er. Es sei wichtig, dass die Mitarbeitenden genau dafür gerüstet seien, betont Rainer Siekmann. "Deswegen brauchen wir Fachkräfte." Nur sie würden das Handwerkszeug für diesen besonderen Alltag mitbringen, der große Verantwortung, aber auch große Möglichkeiten in sich berge. 

Kerstin Schwabl, Referentin im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen der Diakonie RWL.

Um neue Fachkräfte zu gewinnen, müssten vor allem die Rahmenbedingungen in der stationären Erziehungshilfe verbessert werden, sagt Kerstin Schwabl, Referentin im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen der Diakonie RWL. 

Neue Fachkräfte gewinnen

Die Suche nach Fachkräften in der stationären Erziehungshilfe gestaltet sich allerdings schwierig. "Über uns schwebt immer dieses Damokles-Schwert, dass wir nicht mehr genug Fachkräfte haben, um die Arbeit überhaupt leisten zu können", sagt Kerstin Schwabl, Referentin im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen der Diakonie RWL. Dann würde sich die Arbeit auf ambulante und teilstationäre Angebote verschieben. Um neue Fachkräfte zu gewinnen, müssten vor allem die Rahmenbedingungen verbessert werden, ist sie sicher. Viele jungen Menschen würden heute keine Vollzeit-Stelle mehr wollen. "Es braucht also mehr Flexibilität in den Dienstplänen", fordert sie.

Durch mehr Personal müssten auch Doppeldienste vermieden und Krankheitsfälle besser kompensiert werden – dafür müsste es beispielsweise leichter werden, etwa ausländische Fachkräfte anzuerkennen, weitere Berufsgruppen für die Arbeit zu qualifizieren. "Und die Finanzmittel für Fort- und Weiterbildungen sind zu knapp", sagt Kerstin Schwabl. Mitarbeitende seien viel zufriedener in ihrem Beruf, wenn sie fachlich gut gerüstet seien. Die Diakonie RWL sei für diese Ziele bereits im Einsatz – mit dem neuen Positionspapier und ihrem Engagement auf politischer Ebene. Kerstin Schwabl betont: "Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Bereich nicht hinten runterkippt."

Text: Theresa Demski, Fotos: Theresa Demski, Diakonie RWL, Shutterstock 

Ihr/e Ansprechpartner/in
Kerstin Schwabl
Geschäftsfeld Familie und junge Menschen