4. Juli 2023

Migration

Nach der Flucht zur Ruhe kommen

Rund 22.000 Menschen haben in den ersten vier Monaten 2023 in Nordrhein-Westfalen einen Antrag auf Asyl gestellt. Die Kommunen klagen über Kapazitätsgrenzen, und das Land stockt die Plätze in Unterbringungseinrichtungen auf. "Wir brauchen aber mittel- und langfristige dezentrale Lösungen", sagt Hanna Zängerling, Referentin für Flucht und Migration beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe. Städte wie Minden zeigen, dass Kommunen gute Konzepte haben und umsetzen.

Eine Sammelunterkunft für Geflüchtete.

In solchen Sammelunterkünften leben oft Hunderte Menschen auf engem Raum ohne Privatsphäre.

Er hat in der vergangenen Nacht wenig geschlafen. "Es ist eine sehr schwierige Situation", sagt Husam. Der 27-Jährige ist müde. Anfang März hat er auf seiner Flucht vor dem Krieg in Syrien Deutschland erreicht. Seit zwei Monaten lebt er in einer Notunterkunft des Landes Nordrhein-Westfalen. An guten Schlaf ist dort selten zu denken. "Hier leben etwa 300 Menschen", sagt er, "es ist ein offener Raum." Frauen, Kinder, Männer: Sie leben hier gemeinsam ohne lärmschützende Wände und ohne Privatsphäre – mit nicht mehr als einem Bett. Sie warten auf ihre Interviewtermine oder die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über ihren Asylantrag. "Ich würde gerne arbeiten", sagt Husam, "und Deutsch lernen." Aber beides ist im Camp, wie die geflüchteten Menschen die Sammelunterkünfte oft nennen, nicht möglich. "Die Mitarbeiter hier sind wirklich nett", sagt er, "sie helfen, wo sie können." Zuhause hat er als Arzt gearbeitet, bis der Krieg ihm jede Perspektive nahm. In der Notunterkunft fällt es ihm zuweilen schwer, die Hoffnung zu erhalten. Einer der Männer, der gleich nebenan schläft, wartet schon seit sechs Monaten auf die Antwort auf sein Interview beim Bundesamt. Husam hatte im Mai seinen Interviewtermin. "Manchmal habe ich das Gefühl, ich verliere hier meine Zeit", sagt er.

Hanna Zängerling, Referentin für Flucht und Migration bei der Diakonie RWL.

Hanna Zängerling, Referentin für Flucht und Migration bei der Diakonie RWL, ist davon überzeugt: : "Es ist möglich, kommunal mit Haltung und Weitblick gute Lösungen zu finden."

Suche nach neuen Lösungen

Hanna Zängerling, Referentin für Flucht und Migration beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe, weiß um die Situation der Geflüchteten in den Notunterkünften des Landes. "Das Land NRW hat die Kapazitäten der zentralen Einrichtungen im vergangenen Jahr deutlich erhöht", sagt sie. Knapp 30.000 Plätze in Camps seien so entstanden – auch in Zelten und Hallen. Das sei die Antwort der Landesregierung auf die Klage vieler Kommunen, die Unterbringung von Geflüchteten nicht länger stemmen zu können. Viele Geflüchtete würden inzwischen deutlich länger als ein paar Monate, nämlich bis zu zwei Jahre, in den Landesunterkünften leben. Menschen, die psychisch oder körperlich krank sind, Atteste als Nachweis für das Verfahren benötigen, leiden besonders unter dieser Belastung. Viele hätten noch keinen Termin für eine Anhörung beim Bundesamt, Beratung im Asylverfahren gebe es in den Notunterkünften nicht. Und das Verfahren dauere immer länger. "Das macht etwas mit den Menschen", weiß die Referentin für Flucht und Migration, "Camps machen viele der Menschen auf Dauer kaputt und krank." Es entstünden ungesunde Dynamiken und Abhängigkeiten – während die Menschen zum Warten verdammt seien. "Wir brauchen mittel- und langfristige Lösungen", appelliert Hanna Zängerling an die Politik – und an die Kommunen. Denn sie ist überzeugt: "Es ist möglich, kommunal mit Haltung und Weitblick gute Lösungen zu finden." Dabei schaut sie auf die Stadt Minden. 

Ruth Georgowitsch, Bereichsleiterin Soziales bei der Stadt Minden.

"Wir haben uns schon 2013 Gedanken darüber gemacht, wie wir künftig geflüchtete Menschen unterbringen wollen", sagt Ruth Georgowitsch, Bereichsleiterin Soziales bei der Stadt Minden. 

Teilhabe ermöglichen

Dort haben Politik und Verwaltung konstruktive Wege gefunden – und bieten heute mehr Geflüchteten ein Dach über dem Kopf und ein neues Zuhause als die Zuweisung des Landes von ihnen fordert. "Wir haben uns schon 2013 Gedanken darüber gemacht, wie wir künftig geflüchtete Menschen unterbringen wollen", erzählt Ruth Georgowitsch, Bereichsleiterin Soziales bei der Stadt Minden. Die Stadt suchte das Gespräch mit Akteuren auf dem Wohnungsmarkt und einigte sich schließlich mit einem Immobilieneigentümer: Er würde sein großes, leerstehendes Gebäude sanieren und die Stadt würde es anschließend mieten. "Natürlich gab es damals auch Widerstände", sagt Ruth Georgowitsch, "viele fragten, ob das der richtige Zeitpunkt sei." Aber die Stadt wollte vorbereitet sein – und nahm die Bürger und die Politik mit. "Wir wussten damals schon: Privatwohnungen anzumieten, würde uns langfristig weniger Geld kosten, als große Camps in Sporthallen einzurichten und zu betreiben", erklärt die Bereichsleiterin, "vor allem aber wollten wir den Menschen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Privatsphäre. Ruhe und Sicherheit nach der Flucht." Also schrieb der Bürgermeister alle Eigentümer in der Stadt mit dem Grundbesitzabgabenbescheid an und fragte nach freiem Wohnraum.

Eine Flüchtlingsunterkunft in Düsseldorf.

Solche Containerunterkünfte - hier in Düsseldorf - stehen oft am Stadtrand.

Sammelunterkünfte für den Übergang

Mit Erfolg: Heute hat die Stadt Minden 298 Privatwohnungen angemietet. Einige stehen leer, um Wohnraum für Neuankömmlinge vorzuhalten. "Alleinstehende werden häufig in Wohngemeinschaften untergebracht", erzählt die Bereichsleiterin, "dabei achten wir natürlich auf Herkunft, Geschlecht und Alter." Parallel baute die Stadt immer mal wieder auch Gemeinschaftsunterkünfte auf – in Hallen und alten Schulen. "Aber immer nur als Übergangslösung, um niemanden abweisen zu müssen", erklärt Ruth Georgowitsch. Häufig wurden diese Unterkünfte gar nicht gebraucht. In anderen Fällen konnten Geflüchtete schnell wieder ausziehen, weil die Stadt weitere Wohnungen anmieten konnte. Aktuell ist keine dieser Sammelunterkünfte mehr in Betrieb. "Wir sind eine ländliche Region", sagt die Bereichsleiterin. Deswegen sei der Wohnungsmarkt in Minden auch noch nicht so angespannt wie in den Großstädten. Und: Die Stadt könne immer wieder auch Wohnungen zurückgeben, erzählt sie. Dieser Wohnraum werde dann oft erstmals dem Wohnungsmarkt zur Verfügung gestellt – ein Gewinn für alle Mindener. 

Oliver Roth, Flüchtlingsberater beim Evangelischen Kirchenkreis in Minden.

Oliver Roth, Flüchtlingsberater beim Evangelischen Kirchenkreis in Minden, ist davon überzeugt, dass die Unterbringung in Privatwohnungen den Ankommenden die Integration erleichtert. 

Menschenwürdiges Umfeld

Oliver Roth, Flüchtlingsberater beim Evangelischen Kirchenkreis in Minden, schwärmt von dem Modell der Stadt. "Wir würden uns wünschen, dass mehr Städte in NRW diesen Weg gehen würden", sagt er. Denn die Unterbringung in Privatwohnungen erleichtere den Ankommenden ganz entscheidend die Integration. "Sie kommen häufig in eine Wohngemeinschaft, in der Menschen leben, die einen Teil des Weges schon hinter sich gebracht haben", erzählt Oliver Roth, "sie können helfen und unterstützen und ihnen wertvolle Tipps geben." Die Nachbarn seien in der Nähe. "Es macht einen Unterschied", betont Roth und erzählt von einem Containerdorf in der Nachbarstadt. "Am Stadtrand, kein ÖPNV, mehr als 70 Menschen, eine Küche, jeweils ein Bad und eine Dusche", sagt er. Nebenan auf dem Festplatz finden gelegentlich große Feste statt. Dann wird bis tief in die Nacht gefeiert. "Da wachsen Frustration und Hoffnungslosigkeit", sagt er. Dann kommen die Menschen in die Beratungsstelle auf der Suche nach einem Ausweg, nach einer Perspektive. "Diese Menschen sind im Grunde noch gar nicht angekommen", erzählt Oliver Roth.

In Minden ist das anders: Natürlich gebe es auch hier Herausforderungen, lange Asylverfahren, ewiges Warten auf die Ergebnisse der Interviews, zu wenig Kindergarten- und Schulplätze. "Aber währenddessen leben die Geflüchteten in einem menschenwürdigen Umfeld", sagt Roth, "und das verändert viel." 

Husam träumt noch von einer kleinen, eigenen Wohnung. "Ich warte wie alle anderen auch", sagt der 27-Jährige – auf die Antwort des Bundesamts und auf eine Perspektive. Was er sich wünscht? "Ich möchte arbeiten", sagt er, "und einfach leben." 

Text: Theresa Demski, Fotos: David Ertl, Pixabay, Privat

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