Migration
Als Mia Sohel vor einigen Jahren nach Deutschland kam, war er mit seinem Alltag überfordert. Briefe vom Jobcenter blieben beispielsweise liegen, weil er sie nicht lesen konnte. "In meinem Integrationskurs habe ich dann vom Angebot der Migrationsberatung gehört", berichtet der anerkannte Geflüchtete aus Bangladesch. Ab dann ging es aufwärts: Astrid Oettgen von der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE) des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Aachen half ihm, dass er vom Jobcenter das Geld bekam, das ihm zustand. "Außerdem haben wir es gemeinsam geschafft, dass er einen Job in der Gastrobranche gefunden hat, in dem er nun endlich unter fairen Bedingungen arbeiten kann", sagt die Sozialpädagogin. Denn Sohels vorheriger Arbeitgeber hatte ihm jeglichen Urlaub verweigert.
Diplom-Sozialpädagogin Astrid Oettgen in ihrem Büro in Aachen. Sie berät erwachsene Zugewanderte.
Komplexe Herausforderungen
Mittlerweile versucht Mia Sohel, sein Leben in Deutschland selbstständig zu regeln und ist nur noch hin und wieder auf Astrid Oettgens Unterstützung angewiesen. "Ein schöner Erfolg, aber innerhalb so kurzer Zeit gelingt das den wenigsten", sagt sie. "Denn die Hindernisse und Herausforderungen für Zugewanderte in Deutschland sind komplex, das Sozialsystem ist zu kompliziert." Die erfahrene Beraterin sagt: "Der Bedarf an Migrationsberatung ist enorm und steigt weiter." Von einem optimalen Personalschlüssel seien die Beratungsstellen weit entfernt. Innerhalb der Arbeitsplattform Migration, zu der sich in Aachen trägerübergreifend die Diakonie Aachen, AWO, Caritas, der Paritätische und DRK zusammengetan haben, um gemeinsam ihr starkes Netzwerk für die Migrant*innen zu nutzen, seien etwa jetzt schon annähernd die Zahlen an Beratungen erreicht, die sonst in einem Jahr aufgekommen sind. Oettgen: "Deshalb müssen wir die vom Bundestag geplanten Kürzungen unbedingt verhindern, um in Zukunft eine flächendeckende und qualitative Beratung zu sichern." Ihr Appell an die Politik: Eine dauerhafte Finanzierung der MBE muss sichergestellt sein.
Die Beratenden helfen den Ratsuchenden, wenn diese komplizierte Anträge und Formulare nicht verstehen.
Beratungsstellen am Limit
Zum Hintergrund: Das Bundesprogramm "Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer" als Teil des Integrationsangebotes des Bundes wird lediglich projektbezogen finanziert. Heißt: Jedes Jahr müssen die Stellen neu beantragt werden. In diesem Jahr hat der Bundestag die MBE mit 76 Millionen Euro bezuschusst. Darin enthalten sind auch fünf Millionen Euro aus dem Sonderprogramm Ukraine. "Schon vor dem Ukraine-Krieg waren die Beratungsstellen am Limit. Mit dem Zuschuss konnte der Mehrbedarf an Beratungen wenigstens teilweise aufgefangen und konnten Strukturen ausgebaut werden", sagt Elena Vorlaender, Referentin im Geschäftsfeld Flucht, Migration und Integration des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe, in dessen Verbandsgebiet 29 Träger mit rund 70 Fachkräften an 35 Standorten MBE anbieten. Die Expertin fordert, dass die Bundesregierung die geplanten Kürzungen zurücknimmt und die Finanzierung der MBE mindestens auf dem derzeitigen Niveau bleibt. Vorlaender: "Alles andere widerspricht dem Koalitionsvertrag, in dem es heißt, dass die Strukturen der Migrationsberatungsdienste gestärkt und angemessen gefördert werden sollen."
Für das Haushaltsjahr 2023 plant der Bund massive Kürzungen beim Beratungsprogramm für erwachsene Zugewanderte.
Kürzungen geplant
Doch danach sieht es aktuell nicht aus. Für das Haushaltsjahr 2023 plant der Bund massive Kürzungen. 19 Millionen Euro weniger als noch in diesem Jahr soll es für die MBE geben, das ist ein Minus von 25 Prozent. Die Freie Wohlfahrtspflege als Träger der Beratungsstellen ist mit Blick auf die anstehenden Haushaltsberatungen alarmiert. "Seit ein paar Wochen brennt es akut", beschreibt Elena Vorlaender die angespannte Situation. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) appelliert an die Bundestagsabgeordneten, sich für den Erhalt der bundesweit mehr als 1300 Migrationsberatungsstellen stark zu machen. Denn vielen von ihnen droht das Aus, wenn es weniger Geld vom Bund gibt. "Das wäre fatal", so Vorlaender. Nicht nur vor dem Hintergrund des andauernden Ukraine-Krieges mit Millionen Menschen auf der Flucht. "Die MBE spielt grundsätzlich eine entscheidende Rolle bei der Integration von Zugewanderten."
Interessiertes Publikum beim Aktionstag der Arbeitsplattform Migration in Aachen.
Mehr Aufmerksamkeit
Deshalb wollen auch in den kommenden Wochen bundesweit viele Träger aktiv werden, mit Bundestagsabgeordneten und Bürgern diskutieren und im Netz unter dem Hashtag #StarkeMigrationsberatung auf ihre wichtige Arbeit aufmerksam machen. "Wir wollen die Politiker und Politikerinnen für das Thema sensibilisieren und zeigen, welchen Mehrwert die MBE gesellschaftlich hat", so Vorlaender. Auch die Arbeitsplattform Migration in Aachen hat einen Aktionstag organisiert und dazu zahlreiche Kommunalpolitiker*innen sowie die Aachener Bundestagsabgeordnete Ye-One-Rhie eingeladen. Die SPD-Politikerin habe sich offen gegenüber den Forderungen der Beratenden gezeigt und zugesagt, "das Thema nach Berlin zu tragen". Auch Elena Vorlaender hatte die Gelegenheit, mit der Bundestagsabgeordneten zu sprechen: "Ich hatte den Eindruck, dass sie verstanden hat, wie wichtig die MBE und deren gesicherte Finanzierung ist." Außerdem habe Ye-One Rhie berichtet, dass die geplante Mittelkürzung auch auf Bundesebene bereits diskutiert werde.
Astrid Oettgen und Jonas Rohlfing wollen für ihre Klient*innen immer das Beste erreichen.
Selbstbestimmtes Leben
Trotz der aktuell ungewissen Situation versuchen Astrid Oettgen und das übrige Team der MBE in Aachen weiterhin, das Beste für die Klient*innen herauszuholen. Sie sagt: "Im Idealfall begleiten wir die Ratsuchenden bis in eine Arbeitsstelle. Unser Ziel ist es, dass sie nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen sind und ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen können."
Text: Verena Bretz, Fotos: Diakonie Düsseldorf, Hilan Mahko, Pixabay, Shutterstock, Werkstatt der Kulturen Aachen
Flucht Migration Integration
Info
Die "Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer" (MBE) hat im Jahr 2021 rund 280.000 Menschen und ihre Familien beraten, hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan, Irak, Bulgarien und der Türkei. Am 1. Januar 2022 gab es in Deutschland insgesamt 1.369 gemeinnützige Beratungsstellen für erwachsene Zuwandererinnen und Zuwanderer.