Jahresbericht Abschiebungsbeobachtung
1) Deutschland schiebt mehr ab – auch aus NRW
Rund 60 Prozent aller abgeschobenen Personen wurden mit Sammelabschiebungen rückgeführt, alle anderen auf normalen Linienflügen.
Über die Flughäfen in NRW wurden 2023 insgesamt 2.470 Personen abgeschoben. Das war 45 Prozent mehr als noch im Vorjahr (2022: 1.700 Personen). Rund 60 Prozent aller abgeschobenen Personen wurden mit Sammelabschiebungen rückgeführt, alle anderen auf normalen Linienflügen.
"Wir haben die Sorge, dass die geplanten und teilweise schon umgesetzten Verschärfungen bei Abschiebungen besonders vulnerable Personengruppen treffen", sagt Mert Sayim. Gemeinsam mit seiner Kollegin Judith Fisch beobachtet er für die Diakonie RWL regelmäßig Abschiebungsmaßnahmen, vor allem am Flughafen Düsseldorf. Bei der Beobachtung wird besonders darauf geachtet, dass während des Vollzugs von Abschiebungen humanitäre Standards sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Die beiden Abschiebungsbeobachter*innen befürchten künftig mehr Familientrennungen und dass behinderte Menschen öfter und schneller abgeschoben werden könnten. Sie bewerten bei ihrer Arbeit aber grundsätzlich nicht, ob die Maßnahmen an sich rechtmäßig sind. Dies deckt ihr Mandat nicht ab. Kritische Fälle diskutiert die Abschiebungsbeobachtung gemeinsam mit den Kirchen, dem NRW-Flüchtlingsministerium, der Bundespolizei, Vertreter*innen der Zentralen Ausländerbehörden NRW und weiteren Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise Amnesty International und Pro Asyl im Forum Flughäfen in NRW. Im Jahr 2023 hat die Abschiebungsbeobachtung dem Forum stichprobenartig 74 Einzel- und Familienfälle vorgelegt. Wir stellen einige daraus vor.
"Wird eine Familie getrennt, ist das für die Kinder immer eine große Belastung", so Judith Fisch.
2) Das Kindeswohl nie aus dem Blick verlieren
Ein Mann trifft am Flughafen ein. Er sei in Abschiebungshaft gewesen, seine Familie nicht. Etwa eine Stunde später erreicht der Rest der Familie den Flughafen: seine schwangere Frau und seine fünf Kinder. Die Mutter wird mit ihren fünf Kindern nur langsam in den Wartebereich gebracht, da sie aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht zügig gehen kann. Im Wartebereich laufen die Kinder sofort zu ihrem Vater und umarmen ihn. Die Kinder sowie der Vater und die Mutter wirken erleichtert und glücklich, sich zu sehen. Auf Nachfrage berichtet der Familienvater, dass er zwei Wochen in Abschiebungshaft verbracht habe und sich seine schwangere Frau ganz allein um die Kinder sorgen musste.
3) Es fehlen Standards für die medizinische Begleitung – vor allem bei schwangeren Frauen
Die Abschiebungsbeobachtung beobachtet die Übergabe einer vierköpfigen Familie am Flughafen. Sie soll nach Nordmazedonien abgeschoben werden.
Schnell wird klar, dass die Bundespolizei nicht oder nicht ausreichend über die Schwangerschaft der Mutter informiert wurde. Es erfolgt eine Übergabe des Arztes, der die Fahrt zum Flughafen begleitet hat und dem Arzt, der den Flug begleiten wird: Die Mutter sei im siebten Monat schwanger, die Entbindung in zwei Monaten geplant. Die medizinische Assistentin merkt an, dass ein Flug in diesem Schwangerschaftsstadium ein Risiko für das ungeborene Kind darstellen könnte. Die schwangere Frau äußert gegenüber dem Flugarzt Schmerzen im Bauchraum. Er sagt, dass die Schmerzen seiner Einschätzung nach durch eine volle Blase verursacht werden. Obwohl die Frau im Verlauf der Maßnahme die Toilette genutzt hatte, klagt sie weiterhin über Schmerzen. Die zuführenden Beamt*innen geben an, sie hätten der Frau angeboten, nicht mitzufliegen. Ihr Mann und ihre Kinder würden jedoch auf jeden Fall fliegen. Sie könne das Kind dann in Deutschland austragen und ihrer Familie später nach Mazedonien nachreisen. Die Frau habe daraufhin mehrfach gesagt, sie wolle mit ihrer Familie fliegen.
Als die Betroffene sagt, sie wolle fliegen, sagt der Begleitarzt, die Frau sei ja "ein bisschen schwanger" und "ja, probieren wir es". Anschließend weist er auf den anwesenden Dolmetscher hin und sagt: "Sie fliegen ja mit und können dann mitteilen, wenn etwas sein sollte."
Judith Fisch: "Dieses Beispiel zeigt, dass Mitarbeitende in den Zentralen Ausländerbehörden verpflichtend zum Thema Schwangerschaft bei Abschiebungen geschult werden sollten." Fälle, bei denen medizinische Informationen nicht oder nur unzureichend übermittelt werden, sind für die Personen, die an Abschiebungen beteiligt sind, nicht einzuschätzen. "Dementsprechend sollte aus unserer Sicht die Abschiebung vorerst ausgesetzt werden, damit die Person erst einmal umfassend untersucht werden kann und die Behördenvertretenden keine fahrlässigen Entscheidungen treffen." In der Checkliste des Landes NRW sei zudem festgeschrieben, dass vor einer Abschiebung geprüft werden müsse, ob eine Schwangerschaft vorliege. Jedoch sind die Betroffenen laut Gesetz verpflichtet, Erkrankungen der Behörde "unverzüglich" mitzuteilen und Unterlagen selbstständig vorzulegen. Wenn dies nicht geschehe, dann könne die Behörde dies auch nicht berücksichtigen.
Der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme ist entscheidend, sagt Mert Sayim.
4) Handys bei Abschiebungen – Rechtsberatung muss bis zuletzt möglich sein
Am Flughafen wird eine junge Mutter mit ihrem jungen Kind zugeführt. Die Mutter ist sichtlich aufgelöst und weint viel. Sie berichtet, schwanger zu sein. (…) Sie habe zusammen mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes in einer Landesunterkunft gelebt. Von dort seien sie und ihre Tochter abgeholt worden. Sie gibt außerdem an, sie sei mit dem Kindesvater verheiratet. Bevor sie nach Deutschland gekommen sei, hätten sie zusammen sieben Jahre in der Türkei gelebt. Dort hätten sie auch geheiratet. Ihr Mann sei zuerst nach Deutschland gereist und habe einen Asylantrag gestellt. Sie und ihre Tochter seien nachgekommen und hätten ebenfalls einen Asylantrag gestellt. Sie sagt, sie wollte ihren Mann noch einmal kontaktieren oder mit ihrem Anwalt sprechen, könne dies jedoch nicht, da das Handy bereits im Gepäck eingecheckt sei. Die Nummer ihres Mannes habe sie sich nicht notiert.
Mert Sayim sagt, dass die Frage, wie mit Handys umzugehen sei, nicht klar beantwortet ist. "Bevor die zuständige Behörde das Handy abnimmt, sollte die betroffene Person darauf hingewiesen werden, dass sie später am Flughafen nicht mehr telefonieren kann." Ebenfalls, so Sayim, solle ihr erklärt werden, dass, wenn sie einen Anwalt anrufen will, das am besten sofort tun solle. "Außerdem sollte darauf hingewiesen werden, dass man sich wichtige Nummern handschriftlich notiert. Denn am Flughafen kann nur noch das Telefon der Bundespolizei genutzt werden." Ähnliche Empfehlungen formuliere auch die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter.
"Wir brauchen in Deutschland dringend ein staatlich unabhängiges, handlungsfähiges und flächendeckendes Monitoring im Abschiebungsvollzug", sagt Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann.