5. November 2024

Jahresbericht Abschiebungsbeobachtung

Die fünf wichtigsten Fakten zu Abschiebungen

Die Debatte zum Thema Abschiebungen ist aufgeheizt. Was bei den Rufen nach mehr und schnelleren Abschiebungen oft vergessen wird, ist der menschliche Blick auf die Betroffenen. Im Auftrag der NRW-Landesregierung schauen Judith Fisch und Mert Sayim als Abschiebungsbeobachtung genauer hin, wie mit den Menschen umgegangen wird. Nun haben sie ihren Bericht für das Jahr 2023 vorgelegt. Das sind die fünf wichtigsten Erkenntnisse.

  • Flugzueg am Himmel

1) Deutschland schiebt mehr ab – auch aus NRW

Im Jahr 2023 wurden insgesamt 16.430 Menschen aus Deutschland abgeschoben, beziehungsweise im Rahmen der Dublin-III-Verordnung in andere europäische Mitgliedsländer zurückgeführt. Das waren 27 Prozent mehr als im Vorjahr (2022: rund 13.000 Personen). Dieser Anstieg hat sich auch in NRW bemerkbar gemacht: Das Bundesland hat 2023 mit insgesamt 3.663 Abschiebungen wieder die meisten in ganz Deutschland veranlasst und somit 545 mehr als im Jahr 2022. Mit rund 17 Prozent fällt der Anstieg hier etwas geringer aus als im Bundesdurchschnitt. "Der Anstieg kann damit erklärt werden, dass die Bundesregierung im Berichtsjahr verschiedene Maßnahmen ergriffen hat, um die Ausreisepflicht konsequenter durchzusetzen", sagt Judith Fisch, Abschiebungsbeobachterin bei der Diakonie RWL. Das gliedere sich ein in die "Rückführungsoffensive", die die Ampel-Parteien in ihrem Koalitionsvertrag 2021 vereinbart haben. Die fünf häufigsten Zielländer waren: Georgien, Nordmazedonien, Albanien und Moldau sowie Österreich, wohin Personen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung häufig überstellt werden.
Flughafen am Himmel

Rund 60 Prozent aller abgeschobenen Personen wurden mit Sammelabschiebungen rückgeführt, alle anderen auf normalen Linienflügen.

Über die Flughäfen in NRW wurden 2023 insgesamt 2.470 Personen abgeschoben. Das war 45 Prozent mehr als noch im Vorjahr (2022: 1.700 Personen). Rund 60 Prozent aller abgeschobenen Personen wurden mit Sammelabschiebungen rückgeführt, alle anderen auf normalen Linienflügen.

"Wir haben die Sorge, dass die geplanten und teilweise schon umgesetzten Verschärfungen bei Abschiebungen besonders vulnerable Personengruppen treffen", sagt Mert Sayim. Gemeinsam mit seiner Kollegin Judith Fisch beobachtet er für die Diakonie RWL regelmäßig Abschiebungsmaßnahmen, vor allem am Flughafen Düsseldorf. Bei der Beobachtung wird besonders darauf geachtet, dass während des Vollzugs von Abschiebungen humanitäre Standards sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Die beiden Abschiebungsbeobachter*innen befürchten künftig mehr Familientrennungen und dass behinderte Menschen öfter und schneller abgeschoben werden könnten. Sie bewerten bei ihrer Arbeit aber grundsätzlich nicht, ob die Maßnahmen an sich rechtmäßig sind. Dies deckt ihr Mandat nicht ab. Kritische Fälle diskutiert die Abschiebungsbeobachtung gemeinsam mit den Kirchen, dem NRW-Flüchtlingsministerium, der Bundespolizei, Vertreter*innen der Zentralen Ausländerbehörden NRW und weiteren Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise Amnesty International und Pro Asyl im Forum Flughäfen in NRW. Im Jahr 2023 hat die Abschiebungsbeobachtung dem Forum stichprobenartig 74 Einzel- und Familienfälle vorgelegt. Wir stellen einige daraus vor.

Abschiebungsbeobachterin Judith Fisch

"Wird eine Familie getrennt, ist das für die Kinder immer eine große Belastung", so Judith Fisch.

2) Das Kindeswohl nie aus dem Blick verlieren

Die Ausländerbehörde darf entscheiden, ob eine Familie im Zuge einer Abschiebung getrennt wird oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt ist nie klar, wann und ob sich die durch die Abschiebung getrennten Familienmitglieder wiedersehen werden. Der Checkliste NRW aus dem Flüchtlingsministerium zufolge wird empfohlen, Familien möglichst nicht voneinander zu trennen. "Leider gibt es in NRW bisher keine grundsätzlichen Regelungen dazu, ob und wenn ja in welchen Sonderfällen Familien überhaupt getrennt werden dürfen", sagt Judith Fisch. Niedersachsen etwa habe seit 2021 solche Regelungen und diese seien sehr sinnvoll. Eine Familientrennung stellt immer einen Eingriff in das Grundrecht zum Schutz von Ehe und Familie dar (Artikel 6 Grundgesetz). Das Kindeswohl muss Artikel drei der UN-Kinderrechtskonvention zufolge immer beachtet werden. "Wird eine Familie getrennt, ist das für die Kinder immer eine große Belastung", so die Psychologin Fisch. Im Jahr 2023 sei es aber in keinem der beobachteten Fälle vorgekommen, dass Kinder allein in Deutschland zurückgelassen wurden und ihre Eltern ohne sie abgeschoben wurden. "Eltern von Minderjährigen sollten unserer Auffassung nach grundsätzlich nicht in Abschiebungshaft genommen werden", sagt Fisch. Dies sei unverhältnismäßig und für Kinder sowie den anderen Elternteil unter Umständen sehr belastend, wie der folgende Fall zeigt:

Ein Mann trifft am Flughafen ein. Er sei in Abschiebungshaft gewesen, seine Familie nicht. Etwa eine Stunde später erreicht der Rest der Familie den Flughafen: seine schwangere Frau und seine fünf Kinder. Die Mutter wird mit ihren fünf Kindern nur langsam in den Wartebereich gebracht, da sie aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht zügig gehen kann. Im Wartebereich laufen die Kinder sofort zu ihrem Vater und umarmen ihn. Die Kinder sowie der Vater und die Mutter wirken erleichtert und glücklich, sich zu sehen. Auf Nachfrage berichtet der Familienvater, dass er zwei Wochen in Abschiebungshaft verbracht habe und sich seine schwangere Frau ganz allein um die Kinder sorgen musste. 

3) Es fehlen Standards für die medizinische Begleitung – vor allem bei schwangeren Frauen

Abschiebungen sind grundsätzlich mit einer großen seelischen und körperlichen Belastung für die Betroffenen verbunden. Bestehende Erkrankungen können sich verschlimmern und akute Erkrankungen können unerwartet auftreten. Nicht nur deshalb ist die medizinische Begleitung vor und während Abschiebungen (bei der Abholung, am Flughafen und während des Flugs) äußerst relevant. Der oder die jeweilige Flug*ärztin trägt eine große Verantwortung. Bei Sammelabschiebungen müssen immer mindestens ein Arzt/eine Ärztin und eine medizinische Assistenz mit an Bord sein.
 
Personen können nur abgeschoben werden, wenn sie "fit to fly", also reisefähig sind. Die zuständige Behörde kann vor einer Abschiebung, oder der/die jeweilige Flugärzt*in direkt am Flughafen ein "Fit-to-Fly"-Dokument ausstellen. "Dieses Dokument darf nur ausgefüllt werden, wenn der Rückzuführende vorab auch tatsächlich untersucht wurde", sagt Judith Fisch. "Wir können oft nicht erkennen, wie die Ausstellung des Fit-to-Fly am Flughafen zustande kommt." Im Berichtsjahr kam es vor, dass Ärzt*innen Symptome wie Ohnmacht, Schwächeanfälle oder Ähnliches als passiven Widerstand werteten, ohne dass die Person zuvor untersucht wurde.
 
Besondere Vorsicht ist bei Schwangeren geboten. Vor allem in der Frühschwangerschaft, bei Risikoschwangerschaften und kurz vor dem errechneten Geburtstermin müssen Flüge kritisch hinterfragt werden. Die internationale Dachorganisation der Fluggesellschaften IATA plädiert dafür, dass – auch bei Zivilflügen – ab der 28. Schwangerschaftswoche grundsätzlich ein ärztliches Attest vorliegen sollte, um einzuschätzen, ob die Frau fliegen kann oder nicht. Judith Fisch sagt: "Eine Abschiebung ist ein Faktor, der die Mutter unter erheblichen Stress setzt." Schwangerschaft sollte viel stärker als bisher einbezogen werden, wenn Ärzt*innen bewerten, ob jemand fliegen kann oder nicht. "Italien schiebt deshalb Schwangere grundsätzlich nicht ab", so Fisch.

Die Abschiebungsbeobachtung beobachtet die Übergabe einer vierköpfigen Familie am Flughafen. Sie soll nach Nordmazedonien abgeschoben werden. 

Schnell wird klar, dass die Bundespolizei nicht oder nicht ausreichend über die Schwangerschaft der Mutter informiert wurde. Es erfolgt eine Übergabe des Arztes, der die Fahrt zum Flughafen begleitet hat und dem Arzt, der den Flug begleiten wird: Die Mutter sei im siebten Monat schwanger, die Entbindung in zwei Monaten geplant. Die medizinische Assistentin merkt an, dass ein Flug in diesem Schwangerschaftsstadium ein Risiko für das ungeborene Kind darstellen könnte. Die schwangere Frau äußert gegenüber dem Flugarzt Schmerzen im Bauchraum. Er sagt, dass die Schmerzen seiner Einschätzung nach durch eine volle Blase verursacht werden. Obwohl die Frau im Verlauf der Maßnahme die Toilette genutzt hatte, klagt sie weiterhin über Schmerzen. Die zuführenden Beamt*innen geben an, sie hätten der Frau angeboten, nicht mitzufliegen. Ihr Mann und ihre Kinder würden jedoch auf jeden Fall fliegen. Sie könne das Kind dann in Deutschland austragen und ihrer Familie später nach Mazedonien nachreisen. Die Frau habe daraufhin mehrfach gesagt, sie wolle mit ihrer Familie fliegen. 

Als die Betroffene sagt, sie wolle fliegen, sagt der Begleitarzt, die Frau sei ja "ein bisschen schwanger" und "ja, probieren wir es". Anschließend weist er auf den anwesenden Dolmetscher hin und sagt: "Sie fliegen ja mit und können dann mitteilen, wenn etwas sein sollte." 

Judith Fisch: "Dieses Beispiel zeigt, dass Mitarbeitende in den Zentralen Ausländerbehörden verpflichtend zum Thema Schwangerschaft bei Abschiebungen geschult werden sollten." Fälle, bei denen medizinische Informationen nicht oder nur unzureichend übermittelt werden, sind für die Personen, die an Abschiebungen beteiligt sind, nicht einzuschätzen. "Dementsprechend sollte aus unserer Sicht die Abschiebung vorerst ausgesetzt werden, damit die Person erst einmal umfassend untersucht werden kann und die Behördenvertretenden keine fahrlässigen Entscheidungen treffen." In der Checkliste des Landes NRW sei zudem festgeschrieben, dass vor einer Abschiebung geprüft werden müsse, ob eine Schwangerschaft vorliege. Jedoch sind die Betroffenen laut Gesetz verpflichtet, Erkrankungen der Behörde "unverzüglich" mitzuteilen und Unterlagen selbstständig vorzulegen. Wenn dies nicht geschehe, dann könne die Behörde dies auch nicht berücksichtigen.

Abschiebungsbeobachter Mert Sayim

Der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme ist entscheidend, sagt Mert Sayim.

4) Handys bei Abschiebungen – Rechtsberatung muss bis zuletzt möglich sein

Abschiebungsbeobachter Mert Sayim hat zusammen mit seiner Kollegin Judith Fisch im Jahr 2023 vermehrt beobachtet, dass Betroffene am Flughafen fragten, ob sie ihren Anwalt, ihre Familie oder Freund*innen kontaktieren dürften. Der Kontakt zu einem Rechtsbeistand ist für Menschen in einer Abschiebesituation zentral, denn Rechtsanwält*innen können in bestimmten Fällen Eilanträge in Bezug auf die bevorstehende Abschiebung stellen. "Hierfür ist der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme entscheidend", sagt Mert Sayim.
 
Die Handys werden meist bei der Abholung von den zuführenden Beamt*innen abgenommen. Kommen sie am Flughafen an, werden die Telefone ausgeschaltet, der Bundespolizei übergeben und im Reisegepäck der betroffenen Personen verstaut. "Wir beobachten oft, dass die Menschen im Wartebereich fragen, ob sie noch einmal telefonieren können. Aber in den meisten Fällen ist das Telefon dann schon eingecheckt und sie haben keine Möglichkeit mehr, das eigene Telefon zu benutzen." Die Betroffenen geben häufig an, dass sie davon ausgingen, am Flughafen ihr Handy nutzen zu können, da ihnen dies so kommuniziert worden sei. "Am Flughafen können sie zwar in besonderen Einzelfällen das Telefon der Bundespolizei benutzen. Doch meist haben sich die Rückzuführenden die Telefonnummern von ihren Kontaktpersonen nicht notiert", so Sayim.

Am Flughafen wird eine junge Mutter mit ihrem jungen Kind zugeführt. Die Mutter ist sichtlich aufgelöst und weint viel. Sie berichtet, schwanger zu sein. (…) Sie habe zusammen mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes in einer Landesunterkunft gelebt. Von dort seien sie und ihre Tochter abgeholt worden. Sie gibt außerdem an, sie sei mit dem Kindesvater verheiratet. Bevor sie nach Deutschland gekommen sei, hätten sie zusammen sieben Jahre in der Türkei gelebt. Dort hätten sie auch geheiratet. Ihr Mann sei zuerst nach Deutschland gereist und habe einen Asylantrag gestellt. Sie und ihre Tochter seien nachgekommen und hätten ebenfalls einen Asylantrag gestellt. Sie sagt, sie wollte ihren Mann noch einmal kontaktieren oder mit ihrem Anwalt sprechen, könne dies jedoch nicht, da das Handy bereits im Gepäck eingecheckt sei. Die Nummer ihres Mannes habe sie sich nicht notiert. 

Mert Sayim sagt, dass die Frage, wie mit Handys umzugehen sei, nicht klar beantwortet ist. "Bevor die zuständige Behörde das Handy abnimmt, sollte die betroffene Person darauf hingewiesen werden, dass sie später am Flughafen nicht mehr telefonieren kann." Ebenfalls, so Sayim, solle ihr erklärt werden, dass, wenn sie einen Anwalt anrufen will, das am besten sofort tun solle. "Außerdem sollte darauf hingewiesen werden, dass man sich wichtige Nummern handschriftlich notiert. Denn am Flughafen kann nur noch das Telefon der Bundespolizei genutzt werden." Ähnliche Empfehlungen formuliere auch die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter.

Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann

"Wir brauchen in Deutschland dringend ein staatlich unabhängiges, handlungsfähiges und flächendeckendes Monitoring im Abschiebungsvollzug", sagt Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann.

5) Fazit: Unabhängige Beobachtung ist wichtig – Deutschland muss nachbessern

Abschiebungen sind in den aktuellen politischen und medialen Debatten wieder stark im Fokus. Deshalb betonen die Kirchen und die Diakonie erneut den Grundsatz "Keine Abschiebung um jeden Preis". Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann  sagt: "Dieser Grundsatz bildet die Grundlage für alle Entscheidungen und Maßnahmen während einer Abschiebung in NRW. Davon sollten wir als Gesellschaft nicht abrücken." Dieses Prinzip müsse auch künftig die Entscheidungen und das Handeln von Behörden leiten – gerade auch angesichts neuer Gesetzesverschärfungen, so Heine-Göttelmann.
 
"Der Jahresbericht der Abschiebungsbeobachtung für 2023 zeigt erneut: Wir brauchen in Deutschland dringend ein staatlich unabhängiges, handlungsfähiges und flächendeckendes Monitoring im Abschiebungsvollzug", so der Diakonie-Vorstand. So weise zum Beispiel jedes Jahr aufs Neue die Europäische Grundrechte-Agentur (Fundamental Rights Agency FRA) darauf hin, dass Deutschland kein nationales Monitoring habe – und damit regelmäßig gegen die Rückführungsrichtlinie der EU verstoße. Kritisiert wird dabei auch, dass die Beobachtung allein auf die Zeit am Flughafen begrenzt ist. Und dass es in Deutschland nach wie vor keine gesetzliche Grundlage für das Monitoring gibt. "CDU und Bündnis 90/Die Grünen haben in ihrem Koalitionsvertrag von 2022 festgehalten, dass sie die unabhängige Abschiebungsbeobachtung in NRW personell stärken wollen", sagt Heine-Göttelmann. "Das scheint uns gerade vor dem Hintergrund der aktuell oft überzogenen und teils fernab der rechtlichen Grundsätze geführten Debatten, mehr als geboten."
 
Text: Franz Werfel; Fotos: Diakonie RWL/Pixabay/Canva
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