Jahresbericht Abschiebungsbeobachtung
Hinschauen. Manchmal kann genau das den Unterschied machen. Das wissen Dalia Höhne und Elena Vorlaender. Sie beobachten an den Flughäfen Düsseldorf und Köln/Bonn Abschiebungen. Mit Empathie und Mitmenschlichkeit registrieren sie, wenn die Würde der Ausreisepflichtigen missachtet wird. Wenn Beamte, Dolmetscherinnen oder Ärzte ihre Grenzen überschreiten, sich im Ton vergreifen, oder sogar übergriffig werden.
Seit 20 Jahren gibt es die Abschiebungsbeobachtung NRW. Sie wurde gegründet, nachdem Aamir Ageeb 1999 während des Abschiebeflugs von Frankfurt in den Sudan starb. Polizisten des Bundesgrenzschutzes hatten ihn gefesselt und drückten seinen Oberkörper immer wieder in Richtung Oberschenkel. Der 31-Jährige erstickte. "Der Fokus lag nach dem Tod von Aamir Ageeb vor allem auf der Anwendung von unmittelbarem Zwang und Gewalt", sagt Elena Vorlaender. Auch zum 20. Jubiläum zeigt sich: Die Abschiebungsbeobachtung wird dringend gebraucht. Die Problemlage habe sich lediglich verschoben, so Dalia Höhne. Akute Gewalt käme seltener vor. Dafür gehe es immer häufiger um das Wohl von Kindern und die Abschiebung von Erkrankten.
Jede siebte beobachtete Abschiebung problematisch
Dalia Höhne und Elena Vorlaender haben im vergangenen Jahr rund 800 Einzel- und Familienabschiebungen beobachtet. Auf 14 Prozent, das sind 112 Fälle, haben sie das "Forum Flughäfen in Nordrhein-Westfalen" aufmerksam gemacht. Zu dem Forum, das sich einmal im Quartal trifft, um problematische Abschiebungen kritisch zu diskutieren, gehören neben der Diakonie RWL noch die evangelische und katholische Kirche, weitere Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International, Pro Asyl, der Flüchtlingsrat NRW, die Liga der Freien Wohlfahrtspflege, UNHCR sowie das NRW-Flüchtlingsministerium, die Bundespolizei und die Zentralen Ausländerbehörden.
"Trotz Corona-Pandemie und dadurch gesunkener Anzahl an Sammelabschiebungen haben wir einen deutlichen Anstieg bei den problematischen Rückführungen wahrgenommen", sagt Dalia Höhne. Im vergangenen Jahr hatten sie lediglich 8,4 Prozent der beobachteten Abschiebungen zur Diskussion ins Forum gegeben.
Abstand halten: In den Flughäfen, wie hier in Bangkok, wurden Sitzplätze im Wartebereich für Reisende abgesperrt. Bei Abschiebungen hingegen seien Abstände oft nicht eingehalten worden, so Höhne und Vorlaender.
Kein konsequenter Infektionsschutz
Während Deutschland sich im Frühjahr 2020 im strikten Lockdown befindet, wird weiter abgeschoben. Nur einen Tag nach dem Beginn der Corona-Bestimmungen verlässt ein Flieger mit 31 Menschen den Düsseldorfer Flughafen nach Serbien. "Das war für mich wie in einer Parallelwelt", beschreibt Vorlaender ihre Eindrücke. "Während Deutschland heruntergefahren wurde, versammelten sich am Flughafen zeitgleich bis zu Hundert und mehr Personen für eine Rückführung." Abstände seien im Terminal und im Wartebereich, wo sich die Menschen über Stunden aufhielten, kaum eingehalten worden. Die Beamten stellten vor Ort lediglich Absperrgitter auf. Auch der Mund-Nasen-Schutz sei häufig nicht konsequent getragen worden.
Große Sorge bereitet ihr auch, dass in der Pandemie immer wieder Menschen abgeschoben wurden, die zu Hochrisikogruppen gehören. So wurde beispielsweise eine 78-jährige Frau, die an schweren Vorerkrankungen litt, in ein Hochrisikogebiet geflogen. "Es ist schwer nachzuvollziehen, dass für Länder Reisewarnungen ausgesprochen werden, dorthin aber weiter Menschen abgeschoben werden. Besonders wenn es sich um Personen aus Risikogruppen handelt", sagt Dalia Höhne.
In vielen Ländern mussten sich die Abgeschobenen direkt nach Ankunft in Quarantäne begeben. "Ein Quarantäne-Hotel oder die Weiterreise zu weit entfernten Verwandten ist für viele jedoch nicht erschwinglich. Das sogenannte Handgeld, das die Menschen in den Flughäfen vor Abreise erhielten, sei in der Pandemie nicht aufgestockt worden. Pro Erwachsenem gab es nach NRW-Erlass 50, für jedes Kind 25 Euro.
Im Austausch: Elena Vorlaender (links) und Dalia Höhne diskutieren die beobachteten Abschiebungen in ihrem Büro am Flughafen Düsseldorf.
Umgang mit kranken Menschen
Seit Jahren kritisieren Höhne und Vorlaender den Umgang mit kranken Menschen. Im vergangenen Jahr seien in zwei Fällen Menschen aus einer stationären Einrichtung heraus abgeschoben worden. "Krankenhäuser und Psychiatrien müssen unbedingt Schutzräume bleiben", betont Elena Vorlaender. In Rheinland-Pfalz, Thüringen und Berlin/Brandenburg bestehen Regelungen, die Abschiebungen aus stationärer Behandlung heraus grundsätzlich untersagen. "Eine entsprechende Regelung sollte es für NRW auch geben. Sonst kommt es immer wieder zu humanitären Härten", ergänzt Dalia Höhne.
Auch am Flughafen selbst entstehen oft dramatische Szenen, wenn die Menschen trotz schwerer Erkrankungen zum Flughafen gebracht werden. In 15 Fällen sei die Transportfähigkeit fraglich gewesen, sagt Vorlaender: "Immer wieder werden wichtige medizinische Informationen nicht weitergeleitet." So beobachteten die beiden Frauen wie ein unter Dreijähriger mit einer beidseitigen Nierenerkrankung mit seiner Familie zum Flughafen gebracht wurde. "Obwohl ein Operationstermin für ihn bereits vereinbart worden war". Die Beamten entschieden kurzfristig, dass die Mutter bis zur Operation bei dem Jungen bleiben sollte. "Den Rest der Familie wollten die Zuständigen abschieben. Nur durch die eindringliche Empfehlung der Beamten im Zielland konnte die Familie dann zusammenbleiben."
Krank am Flughafen: Nicht immer werden wichtige medizinische Informationen weitergeleitet, sagt Elena Vorlaender.
Kinder leiden besonders unter der Abschiebung
Nicht nur, wenn es um dringend notwendige Operationen geht, wird das Kindeswohl zum Thema. In 28 der diskutierten 112 Fälle ging es um die emotionalen Auswirkungen der Maßnahmen auf Minderjährige. "Kinder müssten in einer solchen Extremsituation eigentlich besonders geschützt werden", sagt Elena Vorlaender. Sie und ihre Kollegin plädieren dafür, dass eine Kinderschutzfachkraft die Rückführungen begleitet. "Wir erleben immer wieder, dass sich der Druck und Stress an den Jüngsten entlädt." Im vergangenen Jahr habe eine alleinerziehende Mutter ihr Kind mit einer Faust direkt ins Gesicht geschlagen. "Das haben so viele gesehen, doch niemand ist eingeschritten."
Auch in einem anderen Fall wäre eine Fachkraft für Kinderschutz dringend notwendig gewesen. "Ein 11-jähriger Junge lebte wegen Kindeswohlgefährdung in einer Jugendhilfegruppe, als seine Familie abgeschoben wurde. Trotz des extrem schwierigen Verhältnisses zu seiner Mutter, sollte er im selben Flieger sitzen", erzählt Dalia Höhne. Einen Jugendlichen aus einer geschützten Umgebung zu reißen und ihn dann mit seiner zerrütteten Familie am Flughafen zusammen zu bringen, sieht sie sehr kritisch. "Vor allem weil die Mutter sich ihm gegenüber wirklich unmenschlich verhielt. Sie sagte: Er ist kein gutes Kind, er soll ruhig abgeschoben werden und dort in ein Kinderheim. Das ist die gerechte Strafe für ihn."
Respekt und Menschlichkeit: Besonders während einer Extremsituation wie einer Abschiebung müssen Beamte und Ärzte den Menschen mit Empathie begegnen, betonen Elena Vorlaender und Dalia Höhne.
Die Auswirkungen einer erzwungenen Ausreise seien für Kinder viel weitreichender als für Erwachsene. "Das Kindeswohl müsste deshalb immer an oberster Stelle stehen. Abholungen zur Nachtzeit, das Auseinanderreißen von Familien und fehlende Kinderschutzfachkräfte – all das dürfte es eigentlich nicht geben", so Höhne.
Regelmäßig sensibilisieren die beiden Abschiebungsbeobachterinnen in den Schulungen von Bundespolizisten für den respektvollen und empathischen Umgang mit den Rückzuführenden. "Denn Abschiebungen dürfen nicht mit allen Mitteln um jeden Preis durchgeführt werden", betont Elena Vorlaender.
Text: Ann-Kristin Herbst, Fotos: Hans-Jürgen Bauer/Diakonie RWL und Shutterstock.
Pressemitteilung der Diakonie RWL zum Jahresbericht 2020
Pressefotos zur Berichterstattung
Flucht Migration Integration
Abschiebungen 2020
Aus Deutschland wurden im vergangenen Jahr 8.970 Menschen über Flughäfen abgeschoben; 1.886 dieser Abschiebungen erfolgten über nordrhein-westfälische Flughäfen. Das sind 2.564 weniger als noch im Vorjahr. Der Rückgang lässt sich vor allem auf die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie zurückführen. In der Zuständigkeit Nordrhein-Westfalens wurde unter anderem nach Albanien, Georgien, Kosovo, Bangladesch, Guinea, und Afghanistan abgeschoben. Der Druck abzuschieben, ist weiterhin hoch. Auf ein härteres Vorgehen bei Abschiebungen weist auch der in den letzten Jahren gestiegene Einsatz von sogenannten Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt hin. Im Jahr 2019 wurden zum Beispiel in 1.764 Fällen Hand- und Fußfesseln, Stahlfesseln oder sogenannte Bodycuffs eingesetzt. (Quelle: Bundestagsdrucksache 19/27007)