8. September 2022

Aufnahmeeinrichtungen

Integration durch Isolation?

Monate- oder sogar jahrelang in Aufnahmeeinrichtungen leben – das ist für Geflüchtete in NRW die Regel. Die neue Landesregierung will das ändern. Doch Kritiker nennen rechtliche Bedenken als Einwand. Ein aktuelles Gutachten der Diakonie RWL zeigt: Kürzere Unterbringungen der Schutzsuchenden von bis zu sechs Monaten wären juristisch möglich. 

  • Rote Außenwand der städtischen Flüchtlingsunterkunft in Düsseldorf. Ein Fahrrad lehnt an der Wand.
  • Fußballspielen: In der Zentralen Unterbringungseinrichtung Münster treffen sich die Kinder auf dem Hof, um zu spielen. (Foto: Screenshot LAG-Video)
  • Zuhause auf Zeit: Eine Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Stuttgart. (Foto: Shutterstock)

Warten. Seit elf Monaten steht Amir Milads (Name geändert) Leben still. Als er im November nach Deutschland kam, hatte er Pläne: So schnell wie möglich Deutsch lernen und dann eine Universität finden, an der er seine Doktorarbeit schreiben kann. Stattdessen harrt der 34-Jährige seit rund einem Jahr in einer nordrhein-westfälischen Aufnahmeeinrichtung aus. "Unser Leben besteht aus Essen und Schlafen", erzählt der Afghane am Telefon auf Englisch. "Keiner von uns ist nach Deutschland gekommen, um zu essen und zu schlafen. Wir wollen arbeiten, Deutsch lernen, leben." Nicht wenige der 300 Geflüchteten in seiner Einrichtung seien traumatisiert. Für sie sei es besonders schwierig zu akzeptieren, dass sie nicht wissen, wann und wie es für sie weitergeht. Viele hätten die Hoffnung auf die Zeit nach den Lagern aufgegeben.

Amir Milad lebt mit drei weiteren Geflüchteten aus Afghanistan in einem Raum. Sie sprechen häufig über die Zukunft, spekulieren, wann sie aus der Einrichtung in die Kommune ziehen dürfen. "Als ich ankam, hieß es, du hast Glück, du kommst aus Afghanistan. In drei bis sechs Monaten wirst du in die Stadt ziehen können", sagt Amir Milad. Doch erst nach sieben Monaten fand seine persönliche Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge statt – der wichtigste Termin im Asylverfahren. Seitdem hat der 34-Jährige nichts mehr gehört, er wartet weiter.

Beratungsgespräch mit einer geflüchteten Frau

Für die Menschen da: Die diakonischen Beratungsstellen setzen sich für die Geflüchteten ein - egal, woher sie kommen oder welche Hautfarbe sie haben.

Bis zu zwei Jahre in der Erstaufnahme

Tausenden Menschen in Nordrhein-Westfalen geht es wie Amir Milad. Fast jeder Zweite hatte zum Stichtag 31.03. 2021 mehr als sechs Monate in den Aufnahmeeinrichtungen verbracht. Rund 1.700 Menschen hatten allein im ersten Quartal von 2021 bereits mehr als ein Jahr dort gelebt – das sind 31 Prozent der in diesem Quartal untergebrachten Geflüchteten. "Damit ist NRW eines der Bundesländer mit der längsten Verweildauer", sagt Hanna Zängerling, Diakonie RWL-Referentin für die Fachbegleitung der Asylverfahrensberatung. Die Landesregierung habe in den letzten Jahren den rechtlichen Rahmen von bis zu 24 Monaten in Aufnahmeeinrichtungen in etlichen Fällen ausgereizt. Für die Menschen hat das fatale Folgen.

Keine Besuche, Taschen- und Ausweiskontrollen am Eingang, keine Möglichkeit zu kochen und nur sporadische Deutschkurse: "Solch ein Leben gibt es sonst nur im Gefängnis", bringt es Silvio Jander, der in der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) Düren arbeitet, auf den Punkt. Zu ihm kommen die Menschen, um Hilfe bei ihrem Asylantrag zu bekommen. "Dazu komme ich nicht immer. Ich bin in vielen Fällen damit beschäftigt, die Zuweisungen in die Kommunen durchzusetzen." Er sei sich sicher, dass viele der Menschen nach dem Termin bei ihm in ihren Zimmern zusammenbrechen, so groß sind die Anspannung und die Belastung durch die Ungewissheit. "Das Verfahren ist oft sehr intransparent. Für uns ist nicht klar, wer wann eine Unterkunft in der Kommune zugewiesen bekommt."

Kein geregelter Unterricht

Immer wieder Thema ist die Zuweisung von Familien in die Kommunen. Eltern mit minderjährigen Kindern und vulnerable Personen wie Menschen mit psychischen Erkrankungen, Traumatisierte oder Menschen mit Behinderungen dürfen nur maximal sechs Monate in den Landeslagern untergebracht werden. Expert*innen schätzen, ein Drittel der Geflüchteten gehört zu dieser Gruppe. "In Düren wird in vielen Fällen erst nach Ablauf der sechs Monate eine Zuweisung organisiert", berichtet Silvio Jander, der für das Diakonische Werk des Kirchenkreises Jülich arbeitet. Viele lebten acht bis neun Monate mit ihren Kindern in der Aufnahmeeinrichtung.

Für die Kinder sei dieses Leben in der Schwebe besonders schlimm. "Sie sind hier meilenweit von einer normalen Schule entfernt." Zwar biete die ZUE Düren stundenweise Unterricht, aber Kontakt zu deutschen Kindern, der deutschen Sprache oder dem Schulsystem gebe es nicht. Die Schüler*innen müssten in den Kommunen dann noch einmal von vorne anfangen.

Der Neuanfang kostet Kraft. "Viele haben nicht mehr die Energie dafür, nachdem sie hier monate- oder jahrelang ohne Perspektive und ohne Vorstellung, wie lange sie bleiben müssen, ausgeharrt haben", sagt der Asylverfahrensberater. "Einige werden erst hier in der Einrichtung traumatisiert. Wenn die Menschen nach 18 Monaten endlich zugewiesen werden, haben sie keine Zuversicht und manchmal auch keine Lust mehr. Integration ist so nicht möglich."

Diakonie RWL-Flüchtlingsexpertin Hanna Zängerling

Es ginge auch anders: Diakonie RWL-Referentin Hanna Zängerling weist darauf hin, dass die Bundesländer Gestaltungsspielraum bei der Länge der Unterbringungszeit haben. 

Pochen auf den Koalitionsvertrag

Migrationsexpert*innen hoffen auf die neue Landesregierung. In ihrem Koalitionsvertrag hatte die schwarz-grüne Regierung angekündigt, die "Verweildauer" in den Unterbringungen zu verkürzen: drei Monate für Familien sowie vulnerable Gruppen und möglichst sechs Monate für Erwachsene. Doch bislang ist nichts geschehen. "Befürworter*innen von langen Unterbringungszeiten in den Aufnahmeeinrichtungen berufen sich gerne auf das Bundesgesetz, in dem von einer Verpflichtung zur Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen die Rede ist", sagt Hanna Zängerling. "Dabei ist ganz deutlich, dass die Bundesländer bei der Länge der Unterbringung Gestaltungsspielraum haben." In Thüringen beispielsweise sei die Verpflichtung auf bis zu sechs Monate beschränkt. "Und das funktioniert. Die Menschen kommen schneller in die Kommunen, können wieder für sich selbst kochen, dürfen arbeiten und menschenwürdig leben."

Um die Argumente der Kritiker*innen zu entkräften, hat die Diakonie RWL eine rechtliche Einschätzung bei Rechtsanwalt Jens Dieckmann, Spezialist für Migrationsrecht aus Bonn, eingeholt. "Ich habe mir das Bundesgesetz angeschaut und es gemäß Wortlaut, Systematik und der historischen Auslegung ausgewertet", sagt Dieckmann, der unter anderem auf Bundesebene für die Diakonie Mitglied der Rechtsberaterkonferenz und Ansprechpartner des UNHCR für Flüchtlingsfragen ist. Das Ergebnis sei eindeutig: "Niemand kann sich hinter dem Bundesgesetz verstecken, so meine juristische Einschätzung. Einer kürzeren Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen stehen zumindest keine juristischen Hindernisse im Weg."

Deutschkurs in der Agora in Castrop-Rauxel

Deutschkurse sind gefragt: Viele Geflüchtete bekommen keinen Platz in einem Deutschkurs, wenn sie noch in einer Aufnahmeeinrichtung leben. 

Landesunterkünfte zerstören Menschen

"Die Einschätzung von Jens Diekmann bestärkt uns darin, weiterhin für eine frühestmögliche dezentrale Unterbringung der Geflüchteten zu kämpfen", betont Jens Rautenberg, Leiter des Diakonie RWL-Geschäftsfelds Flucht, Migration und Integration. "Das lange Warten im Landesunterkunftssystem bricht die Menschen. Wir können das nicht weiter zulassen."

Auch Amir Milad kann nicht verstehen, warum die Menschen in seiner Unterkunft nicht stärker gefördert werden. "Ich wollte mich in der nächstgelegenen Stadt zu einem Deutschkurs anmelden, aber keine Chance. Ohne Aufenthaltstitel geht das nicht", sagt er. Wenigstens habe er vor Kurzem, nach neun Monaten Sperre, seine Arbeitserlaubnis erhalten. Nachmittags hilft er jetzt ab und zu in einem afghanischen Restaurant aus. Es ist ein Anfang.

Text: Ann-Kristin Herbst, Fotos: David Ertl/Diakonie Düsseldorf, Shutterstock, privat, Portmann/Diakonie RWL.

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Hanna Zängerling
Geschäftsfeld Flucht
Dietrich Eckeberg
Geschäftsfeld Flucht
Weitere Informationen

Aufnahmesituation
Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, wird zunächst registriert. Nach dem Königsteiner Schlüssel werden die Geflüchteten auf die Bundesländer verteilt, wo sie verpflichtet sind in Erstaufnahmeeinrichtungen zu leben. Je nach Bundesland, dem Herkunftsland des Geflüchteten und seiner Bleibeperspektive können für bis zu 18 Monate, in NRW auch länger, verpflichtet werden, isoliert in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung zu leben. Erst danach dürfen sie in Kommunen leben.