Asylbewerberleistungsgesetz
Firas lebt erst seit einigen Monaten in einer Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen, als seine Zahnschmerzen unerträglich werden. Als Asylbewerber ist er aber nicht gesetzlich krankenversichert und kann nicht einfach zum Zahnarzt gehen. Die Sanitätsstation der Flüchtlingsunterkunft besorgt ihm schließlich einen Krankenbehandlungsschein. Beim Zahnarzt werden ihm zwei Zähne gezogen. Doch eine Prothese erhält er nicht. Denn Asylbewerber haben laut Gesetz nur Anspruch auf eine medizinische Notversorgung. Seitdem hat der Syrer permanent Schmerzen. Weil er nur noch weiche Nahrung kauen kann, verliert er immer mehr Gewicht. Dennoch lehnt es die zuständige Leistungsbehörde – in den Landesunterkünften ist das die Bezirksregierung – zunächst ab, die Kosten für eine weitere Behandlung beim Zahnarzt zu übernehmen.
Silvio Jander, Berater beim Migrationsfachdienst der Diakonie Jülich, beschreibt die Lage Geflüchteter schon jetzt als "prekär".
Ausschließlich Notfallversorgung
Fälle wie der von Firas sind keine Ausnahme. Asylverfahrensberater Silvio Jander kann nur den Kopf schütteln über Behauptungen, dass Asylbewerber sich in Deutschland die Zähne sanieren ließen. "Das ist überhaupt nicht möglich", weiß Jander, Berater beim Migrationsfachdienst der Diakonie Jülich. Es gebe wenige Ausnahmefälle, in denen Zahnersatz genehmigt würde. "Aber nur, wenn jemand sonst quasi verhungern würde und auch erst nach langer Diskussion", so Jander, der Asylsuchende in der Zentralen Unterbringungseinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen in Düren berät. So war es auch bei Firas. Er erhielt schließlich die dringend notwendige Zahnbehandlung, weil sein gesundheitlicher Zustand sich durch die fehlenden Zähne dramatisch verschlechterte. Das gelang allerdings erst, nachdem die unabhängige Beratungsstelle in seiner Unterkunft ihm half, bei der zuständigen Behörde Widerspruch gegen den abgelehnten Antrag einzulegen.
Grund für den eingeschränkten Zugang Geflüchteter zu Ärzten sind die Regelungen des vor 30 Jahren in Kraft getretenen Asylbewerberleistungsgesetzes. "Es sieht eine Gesundheitsversorgung unterhalb des Krankenversicherungsniveaus vor", erklärt Claudius Voigt von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA) in Münster. Demnach haben Asylsuchende nur ein Anrecht auf medizinische Notversorgung, wenn sie starke Schmerzen oder eine akute Erkrankung haben.
Claudius Voigt, Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender in Münster, urteilt: "Die Gesundheitsversorgung wird menschenrechtlichen Standards nicht gerecht."
Lage schon jetzt prekär
Leben Asylsuchende in der Kommune, muss jede ärztliche Behandlung beim zuständigen Sozialamt beantragt werden. Die Beurteilung der Ämter sei je nach Kommune unterschiedlich, beobachtet Voigt. "Da kommt es mitunter vor, dass dringende Behandlungen nicht in Anspruch genommen werden können, weil das Sozialamt sie nicht als notwendig einstuft." Sogar die Behandlung von Kindern mit schweren chronischen Erkrankungen werde bisweilen mit dem Argument abgelehnt, dass diese nicht akut oder schmerzhaft seien. "Es ist eine Gesundheitsversorgung, die menschenrechtlichen Standards nicht gerecht wird", urteilt Voigt.
Erst nach 18 Monaten erhalten Asylbewerber*innen eine Gesundheitskarte. Nach Ablauf dieser Frist haben die Geflüchteten auch Anspruch auf Leistungen in Höhe des Bürgergelds – bislang zumindest. Denn im November einigten sich Bund und Länder darauf, dass Geflüchtete künftig doppelt so lange, nämlich 36 Monate, nur die niedrigeren Asylbewerberleistungen erhalten sollen. Länder und Kommunen sparen nach Erwartungen des Bundes dadurch eine Milliarde Euro ein.
Dabei sei die Lage Geflüchteter schon jetzt prekär, beobachtet Jander. "Der Vorwurf, dass es viele gibt, die hier Leistungen beziehen, um dann Geld in ihre Heimatländer zu schicken, ist absoluter Unsinn." Denn der Regelsatz für Asylsuchende liegt in den ersten 18 – demnächst voraussichtlich in den ersten 36 Monaten – deutlich unter dem Bürgergeld. Einer erwachsenen Person in einer Sammelunterkunft stehen monatlich insgesamt 410 Euro (2024: 460 Euro) zu. In Aufnahmeeinrichtungen des Landes werden davon aber nur 182 Euro (2024: 204 Euro) in bar ausgezahlt. Der Rest entfällt auf Sachleistungen wie Unterkunft und Verpflegung. Von den 45,50 Euro (2024: 51 Euro), die pro Woche ausgezahlt werden, müssen Asylsuchende zum Beispiel Hygieneartikel, Kosten für den Nahverkehr, Handyguthaben oder auch Bücher für den Deutschunterricht bestreiten. Auch eventuelle Kosten für anwaltliche Beratung müssen davon bezahlt werden – üblicherweise in Raten. "Da bleibt in der Regel nichts übrig", beobachtet Jander.
Asylsuchende leben nach ihrer Ankunft in Deutschland in solchen zentralen Unterbringungseinrichtungen.
Weitere Entmündigung
Es sei eine dramatische Entwicklung, dass die ohnehin geringen Leistungen nun durch die Bund-Länder-Beschlüsse weiter eingeschränkt werden sollten, kritisiert Voigt. "Das Rad wird jetzt wieder zurückgedreht." Auch die Pläne für die Einführung einer Bezahlkarte sehen Voigt und Jander mit Skepsis. Demnach soll Asylsuchenden künftig kein oder nur noch wenig Bargeld ausgezahlt werden, um vermeintliche Überweisungen in die Heimat oder die Bezahlung von Schleppern zu verhindern. Stattdessen sollen sie ihre Einkäufe mit einer Bezahlkarte tätigen können.
Die Bezahlkarte sei nichts anderes als eine Sachleistung, sagt Voigt. "Das bedeutet eine weitere Entmündigung der Menschen." Die Einführung einer Karte wäre nur dann sinnvoll, wenn es sich um eine EC-Karte handele, sagt Jander. Das wäre aus seiner Sicht durchaus sinnvoll, denn derzeit müssten die Menschen oft jede Woche stundenlang anstehen, um sich ihr Geld abzuholen. "Wenn jedoch mit der Karte nur eingeschränkt in bestimmten Geschäften bezahlt werden kann, möglicherweise bestimmte Produkte sogar ausgeschlossen sind, dann sei das klar eine Diskriminierung."
Diese geflüchteten Mädchen suchen sich bei der Kleiderausgabe Kleidung aus.
Integration statt Einschränkung
Die von Bund und Ländern beschlossenen Leistungseinschränkungen für Asylsuchende hätten aus Sicht der beiden Experten sozialpolitisch dramatische Folgen. "Hier wird eine soziale Unterklasse geschaffen, die noch länger als bisher mit einer Versorgung unter dem Existenzminimum leben muss", sagt Voigt. Das sei auch mit Blick auf die Integration der Geflüchteten hochproblematisch. Das politische Ziel, die Anreize für eine Flucht nach Deutschland zu senken, werde dadurch ohnehin nicht erreicht, sind sich die Experten sicher.
Die Gründe, aus denen Menschen nach Deutschland kämen, seien sehr komplex und nicht mit Leistungskürzungen abzustellen. "Die Menschen geben in ihren Heimatländern viel auf und nehmen oft große Gefahren auf sich, weil sie keine andere Chance sehen", weiß Jander. Asylsuchende kämen nach Deutschland, weil sie vor Krieg, Verfolgung oder Hunger fliehen würden. "Davon wird sie auch die Einführung einer Bezahlkarte nicht abhalten."
Dafür spreche außerdem, dass auch das vor 30 Jahren eingeführte Asylbewerberleistungsgesetz Deutschland für Geflüchtete "unattraktiver" machen sollte, sagt Voigt. Diese Wirkung sei aber nicht eingetreten. "Bei allen Wohlfahrtsverbänden ist es seit 1993 Konsens, dass das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft werden muss." Stattdessen sollten Asylsuchende Bürgergeld oder Sozialhilfe erhalten. Damit könne auch aus einer Hand die Integration in den Arbeitsmarkt gefördert werden. Statt um Einschränkungen müsse es um die Integration und Teilhabe Geflüchteter gehen.
Text: Claudia Rometsch; Fotos: Pixabay, Privat, Shutterstock