Zwangsheirat
Sich kennenlernen, verlieben und dann für einen gemeinsamen Weg entscheiden: Das ist für viele die ideale Basis für eine langjährige Partnerschaft und Beziehung, am besten für immer. Doch auch heute gibt es in Deutschland immer wieder Ehen, die anders entstehen. Ehen, bei denen das Brautpaar gar nicht einverstanden ist – oder noch nicht einmal gefragt wurde. In der Corona-Pandemie steigen diese Fälle sprunghaft an.
Obwohl es beim Thema Zwangsheiraten eine hohe Dunkelziffer gibt, sind bereits die polizeilich erfassten Zahlen alarmierend: Während im vorletzten Jahr 14 Fälle von Zwangsheiraten registriert wurden, waren es 2020 bereits 26. Und auch die Fachberatungsstellen spüren den gestiegenen Zulauf: Rund 250 Menschen, die zwangsverheiratet werden sollten, suchten im vergangenen Jahr den Kontakt. Die meisten Betroffenen sind mit 80 Prozent Frauen.
Unterstützt Frauen in Not: Leyla Aslan arbeitet bei der Migrationsberatung der Diakonie in Südwestfalen.
Hochzeit in den Schulferien
Viele Zwangsheiraten fallen nicht auf. Am deutlichsten zeigen sie sich im Herbst, wenn der Stuhl im Klassenraum dauerhaft leer bleibt. Die betroffenen Mädchen sind dann häufig nicht aus dem Sommerurlaub zurückgekommen. In der Aufklärungskampagne EXIT macht auch NRW-Gleichstellungsministerin Ina Scharrenbach (CDU) auf die steigende Zahl von Zwangsheiraten aufmerksam. Der lang ersehnte Urlaub ende für die Betroffenen in einer "Albtraumhochzeit mit unabsehbaren Folgen". Lebens- und Zukunftsplanungen würden zunichte gemacht.
Leyla Aslan von der Migrationsberatung der Diakonie in Siegen begleitet das Thema Zwangsheirat schon lange. Sie beobachtet, dass vor allem junge Mädchen zwangsverheiratet werden, die aus besonders traditionellen und religiösen Familien stammen. "In diesen Gruppen wird die Individualität der Kinder nicht gefördert oder als wichtig angesehen", sagt sie.
Auch das Thema arrangierte Ehen beschäftige sie immer wieder. Oft sei es nicht einfach, die Grenze zu ziehen zwischen einer Zwangsheirat und einer arrangierten Ehe. Familien übten auf unterschiedlichste Weise Druck aus, bis das Kind der Hochzeit zustimme. Häufig empfänden die Kinder eine arrangierte Ehe zu Anfang nicht als falsch und verweigerten sich nicht. Fälle, in denen sie rebellierten und dann tatsächlich gezwungen würden, seien eher die Ausnahme.
Wenn die Frauen es in ihrer Ehe nicht mehr aushalten, fliehen viele in Frauenhäuser wie in das Frauenhaus Hamm der Diakonie Ruhr-Hellweg.
Eheprobleme in Deutschland
Meist laufen Zwangsverheiratungen nach Erfahrung der Migrationsberaterin ähnlich ab. Es geht zum Urlaub ans Meer in die alte Heimat der Eltern oder Großeltern. Die Jugendlichen ahnten oft nichts, bis sie im Ausland verheiratet werden. Zurück nach Deutschland reisen sie dann mit ihrem neuen Ehepartner oder ihrer neuen Ehepartnerin. Häufig fangen kurz danach die Probleme an. "Viele der Frauen, die nach der Heirat aus Ländern wie zum Beispiel der Türkei nach Deutschland kommen, fühlen sich von ihren Ehemännern stark eingeschränkt – denn in ihrer Heimat gab es oft durchaus eine Weiterentwicklung", sagt Leyla Aslan.
Während sich die Partner in den sehr traditionell geprägten Familien in Deutschland streng an Regeln und Normen der Familie hielten, sei das Leben im Herkunftsland oft viel liberaler geworden, die Mädchen selbstbewusster. Das überfordere die Männer, die mit einem anderen Bild von Familie aufgewachsen seien, so Leyla Aslan. Zwangsheirat gebe es hauptsächlich in Familien, die sich sehr stark an Traditionen orientierten und kaum in liberaleren Familien, die besser in die deutsche Mehrheitsgesellschaft integriert seien.
Schutz im Frauenhaus
Die katastrophalen Folgen einer erzwungenen Hochzeit kennt Sarah Gaber gut. Sie leitet das Frauenhaus in Hamm der Diakonie Ruhr-Hellweg und kommt mit zwangsverheirateten Frauen meist erst in Kontakt, wenn das Zusammenleben mit dem Partner nicht mehr möglich ist. Wenn Gewalt eine Rolle spielt und sie sich und ihre Kinder schützen müssen. Etwa alle zwei Monate suchen Mädchen ihre Hilfe, die wissen, dass ihnen eine Zwangsheirat bevorsteht. Dann versucht Gaber, sie im Frauenhaus aufzunehmen oder andere Unterstützung hinzuzuziehen. Für die jungen Frauen bedeute das oft den Bruch mit der Familie – kein einfacher Schritt.
Früher aufklären: Sarah Gaber, Leiterin des Frauenhauses Hamm, setzt sich dafür ein, dass in Schulen über Zwangsheiraten gesprochen wird.
"Natürlich wäre es wichtig, früh aufzuklären. Nur wo erreicht man die, die es brauchen?" fragt Sarah Gaber. Sie begrüßt die Kampagne des Landes NRW, die Exit-Aktion informiere gezielt in Schulen. Die Botschaft: Du hast die Wahl. Es ist ein Menschenrecht, sich seinen Ehepartner oder seine Ehepartnerin auszusuchen. Durch Plakate sollen die jungen Frauen auf Hilfsangebote wie das "Hilfetelefon" oder Fachberatungsstellen gegen Zwangsheirat aufmerksam werden. Aber auch vertraute Personen im Umfeld, etwa Freunde oder Lehrkräfte, müssten für das Thema sensibilisiert werden, fordert Sarah Gaber. Sie sollen im Verdachtsfall wissen, wie sie sich verhalten können.
Um Zwangsheiraten zu verhindern, müssten Kinder möglichst früh Selbstbewusstsein lernen, ergänzt Leyla Aslan. "Sie brauchen ein Bewusstsein für die eigene Individualität." Integrationsarbeit sollte zudem an neutralen Orten stattfinden und weniger in den Moscheen, wünscht sich Aslan. Zwangsheiraten zu verhindern, erfordere offene Augen und ein offenes Ohr für die jungen Frauen.
Text: Carolin Scholz, Redaktion: Ann-Kristin Herbst
Fotos: Shutterstock, privat und Frauenhaus Hamm/Diakonie Ruhr-Hellweg.
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Anlaufstellen für Betroffene
Erste Anlaufstellen für Betroffene sind die Fachberatungsstellen gegen Zwangsheirat und das Hilfetelefon. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung (www.exit.nrw) werden Betroffene, Angehörige, Freundinnen und Freunde an 365 Tagen im Jahr und rund um die Uhr unterstützt. Die anonyme und kostenfreie Beratung steht in 17 Sprachen zur Verfügung.