Themenreihe "Gegen Gewalt an Frauen!"
Wenn Lara abends vom Fußball nach Hause kam, lag Mama häufig im Bett und weinte. Meist ging Papa wenig später zu ihr ins Schlafzimmer und entschuldigte sich. Aber am nächsten Tag ging es schon wieder los: Die Neunjährige musste mit anhören, wie ihr Vater die Mutter als Schlampe beschimpfte, Gegenstände nach ihr warf und sie mit dem Tod bedrohte, falls sie ihn verlassen würde. Irgendwann hat Laras Mutter es dennoch getan. Seitdem hat Lara große Angst um ihre Mama und macht sich schwere Vorwürfe. Möglicherweise ist sie selbst ja der Grund dafür, dass Mama und Papa sich nicht mehr lieben. Ihr Fußballtraining hat Lara inzwischen drangegeben.
Auch zwischen Nelios Eltern kam es immer wieder zu seelischer, aber auch zu körperlicher Gewalt. Bis die Polizei irgendwann kam. Seitdem sind seine Eltern getrennt, Nelio lebt bei seiner Mutter. Aber der Vater wartet oft nach der Schule auf ihn, fragt ihn über seine Mutter aus, beschimpft sie und überrascht seinen siebenjährigen Sohn mit Geschenken. Manchmal ist Nelio wütend auf seinen Vater, dann vermisst er ihn stark. Über seine Gefühle und seine innere Zerrissenheit kann er mit niemandem reden. Auch nicht darüber, dass er plötzlich nachts wieder ins Bett macht.
Freiwillig
"Kinder wie Lara und Nelio, die im Kontext Häuslicher Gewalt aufwachsen, fühlen sich nicht gehört und allein gelassen", sagt die Sozialarbeiterin und angehende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Regina Wilhelm. "Sie brauchen einen geschützten Raum und eine Person, die nur ihnen zuhört und sie begleitet. Das ist in ihrer Situation Gold wert." Genau das bietet das Frauen- und Gewaltschutzzentrum "Der Wendepunkt" der Diakonie Michaelshoven seit 2011 mit seiner Kinder- und Jugendberatung. Regina Wilhelm ist dort seit acht Jahren beschäftigt. Was sie den Kindern und Jugendlichen vermitteln möchte: "Du hast ein Recht darauf, dass es dir gut geht."
Der Kontakt zu den Jungen und Mädchen – deren Altersspanne liegt zwischen vier und 21 Jahren – ergibt sich immer über die Beratung eines Elternteils im "Wendepunkt". "Schließlich hat der weit größte Teil der Frauen, die bei uns Hilfe suchen, auch Kinder", so Wilhelm. Und in all den Jahren seit Eröffnung des Wendepunkts im Jahr 2000 habe man erkannt, dass viele eine eigene Beratung brauchten. Voraussetzung für eine solche Beratung ist, dass die Kinder sich freiwillig dafür entscheiden und dass die akute Häusliche Gewalt bereits beendet ist, etwa durch eine Wegweisung des Gewalt ausübenden Elternteils. "Erst wenn die äußere Sicherheit garantiert ist, können wir uns um die innere Sicherheit kümmern."
"Es lohnt sich, den Kindern eine Stimme zu geben und für ihre Sicherheit zu kämpfen", sagt Regina Wilhelm. Sie arbeitet in der Kinder- und Jugendlichenberatung im Frauen- und Gewaltschutzzentrum "Wendepunkt" der Diakonie Michaelshoven.
Aus dem Blick geraten
Gleichzeitig sei diese Phase eine besondere Hochrisikophase, in der die Kinder leicht aus dem Blick geraten und durchs Netz der Hilfsangebote fallen könnten, so Wilhelm weiter. "Die Mütter stehen während dieser Zeit unter enormem Druck, müssen viele Dinge parallel erledigen und fühlen sich selbst belastet." Auf der anderen Seite hätten die Väter in den meisten Fällen das Recht, ihre Kinder weiterhin zu sehen. Wilhelm: "Manche Kinder möchten das jedoch nicht. Sie haben Angst, trauen sich aber auch nicht, das zu sagen." Dann machten sie und ihre Kollegin den Kindern klar: "Dein Vater hat das Recht auf Umgang, aber deine Sicherheit wiegt mehr."
In der Beratung solle nicht etwa Partei für ein Elternteil ergriffen werden. Vielmehr könnten die Kinder in diesem geschützten Raum über ihre oft sehr ambivalenten Gefühle sprechen. Regina Wilhelm sagt: "Es ist völlig okay, wenn die Kinder ihre Mutter schützen wollen oder ihren Vater idealisieren." Selbst wenn dieser erwiesenermaßen gewalttätig gegen die Mutter geworden sei, so hätten die Kinder ihn dennoch lieb. "Wir reden deshalb bei unseren Treffen auch schöne Dinge über den Vater", erzählt sie. "Bei der Mutter ist das ja oft gar nicht möglich, weil die Kinder Angst haben, dass Mama dann böse oder traurig wird."
Nach vorne schauen
Überhaupt – bis sich die Kinder öffneten und die Leichtigkeit wieder Einzug halte in deren Leben, dauere es manchmal lange. Im Idealfall finden die Beratungen einmal wöchentlich statt, mindestens jedoch alle zwei Wochen. "Zu Beginn sind wir erstmal nur da und hören zu. Meist ist viel Scham und Schuld im Spiel, manchmal auch die Angst, gegen eine Art Schweigegebot zu verstoßen", so Regina Wilhelm. Wenn das Tabu aber erstmal gebrochen sei, folge die Erleichterung. "Ich beobachte immer wieder mit Begeisterung, was für einen klaren Blick viele Kinder auf das Erlebte haben. Und auch, welche Freude sie noch empfinden können, obwohl sie so einen schweren Rucksack tragen." Genau das wolle die Beratung fördern."„Wir gucken gemeinsam nach vorne, was wir stärken und ausbauen können."
Im vergangenen Jahr zählte der "Wendepunkt" 583 Beratungsfälle häuslicher Gewalt, darunter 344 Familien mit insgesamt 572 betroffenen Kindern. Davon haben knapp 70 die Kinder- und Jugendlichenberatung besucht. Die meisten waren Kinder, hauptsächlich Sieben- und Achtjährige, das Verhältnis von Jungen und Mädchen war ausgeglichen. Wie lange dieses ebenso spezielle wie wichtige Angebot aufrechterhalten werden kann, entscheidet sich jedes Jahr aufs Neue. Denn die Kinder- und Jugendlichenberatung ist nicht abgesichert, sondern finanziert sich ausschließlich über Spendengelder. "Aber für jedes einzelne Kind, das wir bislang erreicht haben, hat es sich gelohnt", so Regina Wilhelms Fazit. "Denn in einem Klima von Angst und Gewalt gibt es keinen Schutz und keine Sicherheit. Und beides brauchen Kinder für ihre gesunde Entwicklung."
Für die Beratungen gibt es im "Wendepunkt" einen extra Raum mit Spielzeug, Bastelmaterial und Büchern.
Rückkehr ins Leben
Durchschnittlich dauere ein Beratungsprozess gut ein halbes Jahr, manchmal auch ein ganzes Jahr. "Jede Beratung ist individuell und orientiert sich am Bedarf der Kinder und Jugendlichen", so Wilhelm. Die Treffen finden in dem eigens dafür mit Spielzeug, Büchern, Kuscheltieren und Bastelmaterial ausgestatteten Raum statt, manchmal geht es auch raus auf den Spielplatz oder an den Rhein, in Ausnahmefällen sind sogar Hausbesuche möglich. Außerdem begleiten die Beraterinnen vom "Wendepunkt" die Kinder auf Wunsch auch zu offiziellen Terminen, etwa beim Jugendamt oder vor dem Familiengericht.
Ziel der Beratung sei es, dass die Kinder und Jugendlichen letztlich selbstständig ins Leben zurückkehren können oder in eine Therapie vermittelt werden. "Wir als Beraterinnen machen uns im Idealfall am Ende überflüssig", sagt Regina Wilhelm. Dennoch komme es immer wieder vor, dass sich Kinder und Jugendliche nach einer Zeit nochmal meldeten. Entweder weil sie erneut Unterstützung benötigen oder einfach nur, um zu berichten, wie es ihnen inzwischen geht.
So erzählt Regina Wilhelm von einem Mädchen, das anfangs nicht mehr zur Schule gehen wollte – aus Angst, dass der Mutter etwas passieren könnte, wenn sie nicht bei ihr sei. Nach einem Umzug sei die Achtjährige dann regelrecht aufgeblüht: "Sie ist jetzt sogar Klassensprecherin." Solche Entwicklungen machten ihr Hoffnung, sagt die Beraterin. "Und es bestärkt mich darin, dass es sich lohnt, den Kindern eine Stimme zu geben und für ihre Sicherheit zu kämpfen."
Text: Verena Bretz, Fotos: Diakonie Michaelshoven, Shutterstock/Canva