Themenreihe Familie
Erster Kontakt mit den Eltern: Ricos Eltern melden sich bei der Evangelischen Beratungsstelle. Der 20-Jährige ist nur zu Hause, zieht sich zurück, unternimmt nichts. Sie erwarten nicht, dass sich daran von selbst etwas ändert. Die Eltern sind sich uneinig, wie sie weiter mit dem sozialen Rückzug ihres Sohnes umgehen sollen. Ich empfehle ihnen, dass Rico für ein Gespräch in unsere Beratungsstelle kommt.
Erstes Gespräch mit Rico: Wir haben Erfolg: Rico lässt sich von seinen Eltern überreden, in die Evangelische Beratungsstelle zu kommen. Im Gespräch erlebe ich einen schüchternen und in sich gekehrten, aber klugen jungen Mann, der den Augenkontakt vermeidet. Auf mich wirkt er nicht wie ein 20-Jähriger. Vielmehr wirkt er wie ein Teenager von vielleicht 15 oder 16 Jahren. Rico erzählt, dass er sich ausschließlich für Gaming im Fantasy-Bereich interessiert. Raus geht er nicht, reale soziale Kontakte hat er auch keine. Beim Gaming hat er aber einige "Freunde", mit denen er gemeinsam zockt.
Der Systemische Therapeut Kai Enters rät Rico, sich bei der Angstsprechstunde der Uni-Klinik vorzustellen.
"Das Leben in Angriff nehmen"
Eigentlich möchte Rico nichts ändern, so seine Aussage. Da er es zu Hause gut hat und man ihn, bis auf einige Nörgeleien seiner Eltern, in Ruhe lässt. Trotzdem spürt Rico selbst, dass es ihm "irgendwie nicht gut geht". Er will "etwas tun" und "sein Leben in Angriff nehmen".
Erste Schritte: In den nächsten Terminen bei mir geht es darum, dass Rico sich nur ungern festlegen mag. Er vermeidet klare und eigenverantwortliche Antworten in unseren Gesprächen. Der meistgesagte Satz von Rico: "Ich weiß nicht, vielleicht!?!" Wir sprechen über die Vorteile des "Nichtssagen" und erstellen eine hypothetische Wunschliste mit Fähigkeiten oder Eigenschaften, die er für sich oder an sich ändern möchte. Darauf steht etwa: Schweben, Teleportation oder auch Gedankenübertragung. Das passt zu seiner Aussage, dass es für ihn nicht möglich ist, durch Sprache auszudrücken, was in ihm vorgeht.
Weil wir viel über seine Blockaden und Ängste sprechen, biete ich ihm an, mich für ihn bei der Uni-Klinik Bonn zu erkundigen, ob er zur Angstsprechstunde kommen kann. Dass ich mich für ihn einsetze, gefällt Rico sehr. Die Rückmeldung der Uni-Klinik ist positiv und Rico nimmt sich vor, sich bei der Uni-Klinik zu melden.
Diagnose: Depression
Medizinische und therapeutische Hilfe: Beim nächsten Treffen erzählt Rico von seinem Termin in der Uni-Klinik. Der Arzt habe "depressive Züge" bei ihm diagnostiziert und ihm den Besuch einer Tagesklinik empfohlen. Für Rico war das Ergebnis "jetzt nicht so geil, obwohl es ja auch irgendwie klar war", wie er erzählt. Rico geht auch den nächsten Schritt an: Er hat bereits die Telefonnummer einer Tagesklinik, bei der er sich in den nächsten Tagen melden möchte.
Der Weg zur Tagesklinik: Rico hat mit der Tagesklinik telefoniert. Er ist nun auf der Warteliste, bald steht ein Vorgespräch an. Seinen Eltern hat er aber noch nichts erzählt, obwohl sie ihn nach wie vor häufig fragen, was er denn nun vorhabe mit seinem Leben. Dass er sie noch nicht eingeweiht hat, findet er gut.
Therapie-Start: Ich freue mich mit Rico: Er hat endlich einen Platz in der Tagesklinik! Er ist stolz auf sich, dass er es so weit gebracht hat, und ist gleichzeitig aufgeregt. Wir vereinbaren einen Termin nach seinem Aufenthalt in der Tagesklinik.
Ein strukturierter Tag, Begegnungen und Bewegung an der frischen Luft: Rico genießt die Hin- und Rückfahrten zur Tagesklinik.
Positive Veränderungen und neue Freundschaften
Nach der Tagesklinik: Die sechs Wochen in der Tagesklinik sind sehr positiv verlaufen, berichtet Rico. Der Aufenthalt war ihm fast zu kurz und hätte gerne länger dauern können. Wichtig für Rico war das Hin- und Rückfahren mit dem Fahrrad, die Struktur dort und die Therapiegespräche sowie die sozialen Kontakte zu anderen Menschen. Dabei sind sogar Freundschaften entstanden, die er aufrecht halten möchte, erzählt er und fügt hinzu: "Ich habe ein 19-jähriges Mädchen kennengelernt, das mich begeistert hat." Rico wirkt auf mich sehr verändert. Er sitzt deutlich aufrechter im Stuhl, hält besser den Blickkontakt im Gespräch und hat eine frischere Gesichtsfarbe.
Im nächsten Termin berichtet er, dass er die "Anstupser" aus der Tagesklinik in den Alltag rüber retten möchte. Er nimmt sich vor, einen Therapeuten zu finden, um weiter an seinen Themen zu arbeiten. Auch ein Job schwebt ihm vor: Rico möchte finanziell unabhängig werden. Zudem möchte er täglich "rausgehen", Rad fahren und Leute treffen.
Der Sozialpädagoge und Systemische Therapeut Kai Enters begleitete Rico auf seinem Weg aus der Isolation.
Stolz auf seine Entwicklung
Beim Nachsorgetermin einige Monate später wirkt Rico immer noch viel positiver und frischer als bei unserer ersten Begegnung fast ein Jahr früher. Er berichtet, dass er Kontakt zu Therapeuten hatte und Erstgespräche anstehen. Nach Jobs hat er ebenfalls gesucht, aber noch nichts Passendes gefunden.
Beim Nachsorgegespräch in der Tagesklinik habe er viel Positives über sich und seine Entwicklung gehört. Darauf ist Rico sichtlich stolz. Am meisten freut er sich selbst, dass er regelmäßig Sport macht, rausgeht und Fahrrad fährt. Über die 19-Jährige aus der Tagesklinik hat Rico Freunde gefunden, mit denen er regelmäßig etwas unternimmt. Rico fühlt sich nun "endlich im Leben angekommen".
Protokoll: Kai Enters, Redaktion: Jana Hofmann; Fotos: Canva; Evangelische Beratungsstelle Bonn