Landesinitiative "EXIT.NRW"
Die Frauen kommen auf direktem Weg aus Italien nach Dortmund zur Mitternachtsmission. Schon seit über 100 Jahren hilft der diakonische Verein allen, die aus Sexarbeit, Zwangsprostitution und Menschenhandel herausfinden wollen. Doch leicht zu finden ist die Mitternachtsmission nicht. "Wir haben den Eindruck, dass die Frauen sich gezielt unsere Adresse weitergeben", erzählt Leiterin Andrea Hitzke.
"Viele stammen aus Westafrika und kommen nach Europa, weil ihnen dort ein lukrativer Job angeboten wurde. Doch sie landen auf dem Straßenstrich in Italien, oft ohne Pass und Papiere, und sollen dort die Kosten für die Menschenhändler abarbeiten." Die Frauen flüchten und stehen plötzlich vor der Tür der Mitternachtsmission. "Die meisten Klientinnen sind völlig am Ende, wenn sie hier ankommen", sagt Andrea Hitzke. "Sie brauchen vor allem eines: Ruhe und Sicherheit."
Die Mitternachtsmission besorgt ihnen eine Unterkunft, begleitet sie zum Arzt, Anwälten und Behörden. Ähnliches tun die beiden diakonischen Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel der Diakonie Mark-Ruhr und "Nadeschda" der Evangelischen Frauenhilfe von Westfalen. Die drei Hilfsangebote gehören zu den insgesamt acht landesgeförderten Beratungsstellen in NRW. 2017 haben die acht Stellen rund 700 Frauen begleitet, 2019 waren es schon 950 und in diesem Jahr bis September bereits 750 Frauen.
Andrea Hitzke, Leiterin der Dortmunder Mitternachtsmission, mit Flyern, die über die Beratungsarbeit informieren. (Foto: Sabine Damaschke)
Thema aus der "Tabu-Ecke" holen
Nach Angaben der Vereinten Nationen geraten weltweit rund 1,6 Millionen Frauen in die Fänge von Menschenhändlern. Westeuropa und damit auch Deutschland gelten als Hauptziele. Doch nur jede 100. Frau wird aus den Zwängen des Menschenhandels befreit.
"Auch im 21. Jahrhundert gibt es noch moderne Sklaverei zulasten von Frauen und Mädchen", meint NRW-Gleichstellungsministerin Ina Scharrenbach. "Wir wollen das Thema aus der Tabu-Ecke der Gesellschaft holen." Die CDU-Politikerin hat daher am 18. Oktober, dem Europäischen Tag gegen Menschenhandel, eine Landesinitiative gestartet, die mit großflächigen Plakaten und einem Internetportal über Menschenhandel und Zwangsprostitution informiert.
"Ein Großteil der von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel betroffenen Frauen und Mädchen kommen durch hilfsbereite Menschen in Kontakt zu spezialisierten Fachberatungsstellen", so Andrea Hitzke bei der Vorstellung der Kampagne "EXIT.NRW" am 19. Oktober in Düsseldorf. "Durch die Initiative können noch mehr Menschen, die helfen wollen, aufmerksam für die Problematik werden."
Oft werden Zwangsprostituierte, die gegen ihre Zuhälter aussagen wollen, bedroht. (Foto: pixabay)
Angst vor Rache und Strafe
Das ist auch nötig, denn viele der geflüchteten Frauen trauen sich nicht, von ihren traumatischen Erlebnissen zu erzählen oder eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Nicht selten werden sie und ihre Familien mit Rache und Strafe bedroht. Besonders groß ist die Angst, wenn die Frauen keinen Aufenthaltstitel haben. "Ihr illegaler Aufenthalt und fehlende Sprachkenntnisse bringen die Frauen in eine starke Abhängigkeit von den Zuhälterinnen und Zuhältern", beobachtet Franziska Lange, die diese Frauen gemeinsam mit ihrer Kollegin Margarete Kummer in der Beratungsstelle der Diakonie Mark-Ruhr begleitet.
Im Jahr 2018 registrierte das Landeskriminalamt laut Scharrenbach 131 Opfer und 154 Tatverdächtige. Doch viele Beschuldigte konnten nicht ermittelt werden, weil die Frauen nur den "Spitznamen" aus dem Rotlichtmilieu kannten. Unter den identifizierten Verdächtigen waren 18 Prozent deutsche Staatsangehörige, rund 17 Prozent Nigerianer und etwa zehn Prozent Rumänen und Bulgaren.
Margarete Kummer und Franzika Lange (v.l.) haben sich schon vor der Pandemie intensiv um Frauen, die Opfer von Menschenhandel wurden, gekümmert. Jetzt ist deren Zahl noch einmal gestiegen. (Foto: Sabine Damaschke)
Hohe Hürde: Asylantrag
Nach der Flucht aus der Zwangsprostitution haben die Frauen drei Monate Zeit, um zu entscheiden, ob sie einen Aufenthaltstitel als Opfer von Menschenhandel oder einen Asylantrag stellen wollen. Die meisten entscheiden sich nach Beobachtung der Beraterinnen für den Asylantrag, denn sie möchten nicht mehr mit Menschenhandel und Zwangsprostitution in Verbindung gebracht werden.
Bei der Anhörung allerdings müssen sie ihre Geschichte der Anwerbung, Flucht, Vergewaltigung oder sogar Folter noch einmal ausführlich darstellen. "Das ist unglaublich belastend", sagt Margarete Kummer, die den Frauen schon in vielen Anhörungen zur Seite gestanden hat. "Und jetzt in der Corona-Pandemie müssen wir leider auf eine tröstende Umarmung verzichten – auch wenn es schwerfällt."
Aktuell befinden sich nach Angaben der Diakonie Mark-Ruhr 34 Frauen mit 20 Kindern in der Betreuung. Davon sind seit Mitte März bis heute 17 Frauen und 10 Kinder neu hinzugekommen. Die beiden Beraterinnen begleiten fast doppelt so viele Klientinnen wie noch vor zwei Jahren.
Text: Sabine Damaschke (mit epd); Teaserfoto: EXIT.NRW, Shutterstock und Mitternachtsmission Dortmund
Diakonie RWL-Reportage zu 100 Jahren Dortmunder Mitternachtsmission
Diakonie RWL-Reportage über die Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel der Diakonie Mark-Ruhr
Interview mit der Ev. Frauenhilfe von Westfalen zur Prostitution in der Corona-Krise
Familie Frauen Bildung
Die Initiative "EXIT.NRW" ist am 18. Oktober 2020 gestartet. Bis zum 28. Dezember 2020 zeigt sie rund 2.000 Großflächenplakate an öffentlichen Plätzen in zehn Städten von Bochum bis Wuppertal, in denen sie auf Menschenhandel und Zwangsprostitution aufmerksam macht. Auf der Internetseite www.exit.nrw können sich Interessierte zudem umfangreich über das Thema informieren und eine Übersicht zu den Hilfeangeboten erhalten.