Diakonie gegen Armut
Marzia Micarelli vor ihrem "mittendrin"-Büro
"Braucht ihr noch Kaffee oder Brötchen?" ruft Marzia Micarelli in die Runde der sieben Frauen, die um einen Tisch im Wohnzimmer der Etagenwohnung sitzen, in der die Sozialarbeiterin ihr Büro hat. Es ist laut. Die Frauen lachen, ihre Kinder spielen in der Ecke oder stehen am Tisch.
"Alles gut", sagt Janine Konrad laut – und Marzia Micarelli verschwindet in ihrem Büro. Anträge fürs Sozial- und Jugendamt bearbeiten, Beratungstermine abstimmen, mit einer Kita telefonieren. Es ist immer viel zu tun. Unterdessen kümmert sich Janine um die Spielgruppe, die sich hier jeden Mittwoch trifft.
"Ich habe sie vor vier Jahren mitgegründet", erzählt die 28-jährige Mutter von drei Kindern stolz. Janine Konrad ist in Duisburg-Neuenkamp aufgewachsen. Mit 18 Jahren hat sie ihr erstes Kind bekommen, gekellnert, eine Ausbildung gemacht. Heute arbeitet sie als Familien- und Seniorenbetreuerin und ist alleinerziehend.
Lena ist dankbar für die Erziehungstipps, die sie in der Spielgruppe bekommt
Das Geld ist knapp – wie bei allen Frauen, die sich hier regelmäßig treffen. Aber von Armut möchte niemand sprechen. Auch die 20-jährige Lena (Name geändert) nicht, die zwei Kinder hat, von Hartz IV lebt und bald eine Ausbildung zur Altenpflegerin beginnt. In die Spielgruppe kommt sie, um andere Mütter zu treffen und Erziehungstipps zu erhalten.
Armut nicht thematisieren, den Schein wahren
"Dort haben wir schon über alles gesprochen – vom Zahnen der Kinder über den Alkoholkonsum der Männer bis hin zu Geschlechtskrankheiten", erzählt Marzia Micarelli in ihrem Büro. "Die Frauen haben eine Menge Probleme, aber sie packen sie tapfer an und würden niemals von sich behaupten, dass sie arm sind." Statistisch gesehen sind von den 5.400 Menschen, die in Neuenkamp wohnen, 1.300 von Armut betroffen. Sie leben von Hartz IV, haben keinen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung und wenn sie Arbeit haben, ist diese oft schlecht bezahlt.
Die Mütter reden, die Kinder spielen
Doch nur selten steht eine Familie in Marzia Micarellis Büro und bittet um Hilfe. Es sind die Kindertagesstätten oder die Schule, die die 44-jährige Sozialarbeiterin darauf aufmerksam machen, dass eine Familie dringend Unterstützung braucht.
Und es sind "Nebenbeigespräche" wie in der Spielgruppe, im Einkaufsladen oder auf der Straße, in denen sich die Menschen Marzia Micarelli anvertrauen. "Dieser Stadtteil ist ein Dorf", sagt sie. "Jeder redet über jeden und versucht, den guten Schein zu wahren."
Leerstand, Isolation und Vorurteile
Dabei werden die Probleme schon beim Spaziergang durch das Viertel, das isoliert zwischen dem Duisburger Rotlichtmileu am Hafen und einem Industriegebiet liegt, sichtbar. Viele Geschäfte stehen leer. Banken und Arztpraxen fehlen. Von Wohnblocks blättert der Putz, Müll türmt sich vor den Containern. Dazwischen aber liegen Straßen mit kleinen, gepflegten ehemaligen Zechenhäusern, sauberen Bürgersteigen und schönen Grünanlagen. "Dort wohnt der bürgerliche Mittelstand, der Privatwohnungen lieber leer stehen lässt als sie an Flüchtlingsfamilien zu vermieten", erzählt Marzia Micarelli.
"Wissen öffnet die Welt": Motto der ehemaligen Schule, in der jetzt Flüchtlinge leben
Rund 130 männliche Flüchtlinge sind in einer leerstehenden Schule untergebracht. 90 Familien aus insgesamt 24 verschiedenen Nationen – von Syrien, über den Irak bis nach Nigeria – leben in Wohnungen, die von der sozialen Wohnungsbaugesellschaft zur Verfügung gestellt wurden.
"Es gibt sehr viele Vorurteile", beobachtet die Sozialarbeiterin. "Da werden farbige Flüchtlinge verdächtigt, Kinder vor der Kita zu belästigen. Allein reisende Männer sollen Mädchen vergewaltigt haben und Müll, der nicht weggeräumt wurde, stammt natürlich von den Flüchtlingsfamilien."
Begegnungsräume und Pädagogen fehlen
Die Sozialarbeiterin versucht immer wieder, diese Ängste und Vorurteile auszuräumen und Flüchtlinge und Bewohner des Stadtteils zusammenzubringen. In der Spielgruppe gelingt das bisweilen. Aber es fehlen Begegnungsräume im Quartier. Die Etagenwohnung des Projekts "mittendrin", das seit acht Jahren vom Diakoniewerk Duisburg getragen und der Stadt finanziert wird, ist zu klein.
Flüchtlingsberaterin Marion Rossocha arbeitet direkt über Marzia Micarelli
Zwar hat die Diakonie vor über einem Jahr eine weitere Wohnung direkt über Marzia Micarellis Büro gemietet, in der ihre Kollegin Marion Rossocha die Flüchtlingshilfe für den Stadtteil koordiniert. Doch auch diese Wohnung bietet nicht viel Platz. Außerdem finden dort die ganze Woche über Sprachkurse statt.
"Dieser Stadtteil hat viel Potenzial, aber die Menschen leben ziemlich isoliert. Es fehlt eine soziale Vernetzung", sagt Marion Rossocha. Mit ihrer Kollegin ist sie sich darin einig, dass vor allem für die Kinder und Jugendlichen mehr getan werden muss. Zwar wurde das Jugendzentrum nach über einem Jahr auf Druck der Sozialarbeiterinnen wieder geöffnet, aber sonst gibt es kaum pädagogische Angebote für die Kinder.
Bei den Kindern beginnen
"Wir vergrößern die Armut, wenn wir Flüchtlinge kaum oder gar nicht integrieren", ist Marion Roccocha überzeugt. "Integration und Armutsbekämpfung brauchen einen langen Atem. Beides beginnt bei den Kindern." Denn sie sind noch offen, neugierig und gehen meist ohne Vorurteile aufeinander zu. "Wenn wir den Kindern im Viertel Spaß am Lernen und der Begegnung vermitteln, haben sie eine Chance, aus der Armutsfalle herauszufinden. Doch dafür brauchen wir Pädagogen und Räume."
Aus trostlosen Wohnblocks sollen bald attraktive Generationenhäuser werden
Erste Ansätze, die Isolation aufzubrechen und Nachbarschaftshilfe zu ermöglichen, gibt es bereits. Die soziale Wohnungsbaugesellschaft will mit Landesfördermitteln einen ganzen Wohnblock in ein Generationshaus umwandeln, in dem Jung und Alt zusammenwohnen. Geschäfte und Ärzte sollen wieder nach Neuenkamp geholt werden.
Bislang nämlich gibt es nur einen Discounter im Stadtteil, vor dem sich Kinder und Jugendliche nach der Schule herumtreiben. So wie Mohammed und Mohammed, zwei Erstklässler aus Syrien und der Türkei. Stolz präsentieren sie ein Eurostück, das ihre Eltern ihnen gegeben haben. "Davon kaufen wir uns immer Chips", sagen sie.
Text und Fotos: Sabine Damaschke