100 Jahre Mitternachtsmission
Andrea Hitzke, Leiterin der Mitternachtsmission, mit dem aktuellen Informationsmaterial, das sie und ihre Kolleginnen auf der Straße verteilen. (Foto: Sabine Damaschke)
Ob Straßenstrich, Bordell, Club oder Bar – Andrea Hitzke weiß genau, wo sich in Dortmund all die Orte befinden, die gemeinhin als "dunkle Ecken" oder "Rotlichtmilieu" bezeichnet werden. Schon seit dreißig Jahren ist sie mit ihren Kolleginnen dort unterwegs, um über die Beratungsangebote der Dortmunder Mitternachtsmission zu informieren.
Der altmodische Name stört sie dabei nicht. Im Gegenteil. "Er ist ein guter Anknüpfungspunkt für Gespräche", sagt sie. "Manche Frauen fragen, ob sie erst in die Kirche gehen und beten müssen, um Hilfe zu bekommen." Den 15 Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission geht es nicht darum, Prostituierte zu einem frommen Leben zu bekehren und aus moralischen Gründen zum Ausstieg zu drängen.
"Wir stehen an der Seite der Prostituierten. Unser Ziel ist es, unsere Klientinnen zu einem eigenständigen, sicheren Leben ohne finanzielle und emotionale Abhängigkeiten und ohne Angst zu verhelfen." Eine Tradition, die laut Andrea HItzke durchaus bis in die Anfänge der Mitternachtsmission zurückreicht. So manche Schwester in Tracht habe die Prostituierten respektvoll behandelt und sie selbstbewusst vor Gewalt und Ausbeutung zu schützen versucht.
Unterwegs auf dem Straßenstrich: Ein altes Foto zeigt Andrea Hitzke (links) als Streetworkerin der Mitternachtsmission.
Small Talk auf dem Straßenstrich
"Die Frauen begegnen uns selten mit Misstrauen", erzählt die Sozialarbeitern, die die Mitternachtsmission seit 2012 leitet. "Wir suchen regelmäßig das Gespräch, fragen nach, wie es ihnen geht und helfen, wenn wir darum gebeten werden."
Diese Hilfe kann ganz unterschiedlich aussehen: Oft geht es um Fragen zum neuen Prostituiertenschutzgesetz, das seit August 2017 in Kraft ist. Es geht um Gesundheitsvorsorge, eine Therapie, eine Wohnung oder auch darum, einen anderen Job zu finden.
"Frauen, die in der Prostitution arbeiten, sind häufig sozial isoliert", beobachtet Andrea Hitzke. "Zu Anfang führen viele ein Doppelleben, doch das ist auf Dauer kaum durchzuhalten." Zwar wollten die meisten Frauen nur einige Jahre in Prostitution arbeiten, etwa um eine finanzielle Notlage zu bewältigen. Doch der schrittweise Kontaktabbruch zu Familie und Freunden mache einen Ausstieg immer schwieriger. Die älteste Prostituierte, der die Mitternachtsmission beim Ausstieg geholfen hat, war 72 Jahre alt.
Viele Frauen klingeln gezielt bei der Mitternachtsmission und bitten um Hilfe.
Immer mehr Opfer von Menschenhandel
1.011 Frauen und einige wenige Männer hat der Verein im letzten Jahr beraten. Darunter befinden sich immer mehr Frauen und Mädchen, die Opfer von Menschenhandel wurden. Im vergangenen Jahr unterstützte die Mitternachtsmission 345 von ihnen.
Seit 2015 hat sich ihre Zahl fast verdoppelt. Damals kamen noch mehr Frauen aus osteuropäischen Ländern als Zwangsprostituierte nach Deutschland. Heute hat es die Mitternachtsmission vor allem mit Frauen aus Westafrika, besonders aus Nigeria, Gambia, Guinea und Ghana zu tun. Sie werden oftmals schon auf dem Weg nach Europa Opfer von Gewalt und Menschenhandel.
Immer häufiger kommen sie auf direktem Weg in die Beratung, meist aus Italien. "Wir haben es mit internationalen Netzwerken zu tun", erzählt Andrea Hitzke. "Den Frauen wird ein Job in Europa versprochen, doch sie landen auf dem Straßenstrich in Italien, oft ohne Pass und Papiere, und sollen dort die Kosten für die Menschenhändler abarbeiten." Andere werden von Italien aus in Bordelle in anderen europäische Ländern verkauft. Viele fliehen, wenn sie schwanger sind und klar ist, dass sie ihr Kind abgeben müssen. "Dann stehen sie plötzlich bei uns vor der Tür und bitten um Hilfe." 2017 betreute die Mitternachtsmission zusätzlich 222 Kinder.
Seit drei Jahren kommen zunehmend Frauen aus Westafrika in die Beratung.
Endlich in Ruhe und Sicherheit
Viele der geflüchteten Frauen trauen sich nicht, von ihren traumatischen Erlebnissen zu erzählen oder eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Nicht selten werden sie und ihre Familien mit Rache und Strafe bedroht. Zahlreiche Gespräche seien nötig, um Vertrauen aufzubauen, sagt Andrea Hitzke. Zwei afrikanische Sozialarbeiterinnen, die acht verschiedene afrikanische Sprachen und Dialekte sprechen, unterstützen daher das Team der Mitternachtsmission. "Die meisten Klientinnen sind völlig am Ende, wenn sie hier ankommen", sagt Andrea Hitzke. "Sie brauchen vor allem eines: Ruhe und Sicherheit."
Die Mitternachtsmission besorgt ihnen eine Unterkunft, begleitet sie zum Arzt, Anwälten und Behörden. Drei Monate haben die Frauen Zeit, um zu entscheiden, ob sie einen Aufenthaltstitel als Opfer von Menschenhandel oder einen Asylantrag beantragen wollen. Die meisten entscheiden sich für den Asylantrag, denn sie möchten nicht mehr mit Menschenhandel und Zwangsprostitution in Verbindung gebracht werden.
Frauenpower gegen Menschenhandel und Ausbeutung: Andrea Hitzke (Mitte) mit einem Teil ihres Teams. (Foto: Sabine Damaschke)
Angst vor Ausgrenzung bleibt
Diese Angst vor Diskriminierung teilen sie mit vielen deutschen Prostituierten. Ein wichtiges Anliegen der Mitternachtsmission ist daher der Einsatz gegen Stigmatisierung und Kriminalisierung. Noch immer müssen Prostituierte mit abfälliger Behandlung und Demütigungen rechnen, wenn sie sich als Sexarbeiterinnen outen.
Mit der Meldepflicht im Rahmen des neuen Prostituiertenschutzgesetzes habe sich die Sorge vor gesellschaftlicher Ausgrenzung deutlich verstärkt, beobachtet Andrea Hitzke. "Wir fürchten, dass das Gesetz die Frauen nicht vor Zwangsprostitution, Gewalt und Ausbeutung schützt", kritisiert sie. "Es drängt die Prostituierten in Bereiche, wo sie eher Opfer von Gewalt und Ausbeutung werden, und wo sie nur noch schwer von Hilfe- und Schutzangeboten erreicht werden."
So macht die Mitternachtsmission weiterhin das, was sie seit 100 Jahren tut. Die Mitarbeiterinnen gehen in die dunklen Ecken der Stadt, beraten und helfen.
Text: Sabine Damaschke, Fotos: Mitternachtsmission Dortmund