21. April 2017

Diakonie gegen Armut

Bahnhofsmission: Von der ersten Hilfe bis zum letzten Halt

Wenn sich Armut in einer Stadt verändert, merkt es die Bahnhofsmission zuerst: Am Dortmunder Hauptbahnhof leben zwischen Reisenden und Berufspendlern viele, deren Leben unter die Räder gekommen ist. Am Ende der Gleise 2 bis 5 bekommen sie Kaffee, Lächeln, Hilfe in Not – und vor allem ein offenes Ohr.

Obdachlose vorm Bahnhof

Wenn es zu kalt wird, kommen sie in die Bahnhofsmission: Obdachlose vor dem Dortmunder Bahnhof 

Die gepolsterten Bänke an den cremefarbenen Wänden sind voll besetzt an diesem Morgen. Der Geruch von Armut liegt in der Luft der Dortmunder Bahnhofsmission – nach selbstgedrehten Zigaretten, altem Schweiß, im Freien verbrachten Nächten – und mischt sich mit dem von frischem Kaffee. Hassan Abukassem sitzt hinter dem Tisch mit Tassen, Tee- und Kaffeekannen. Er trägt die leuchtend blaue Weste der Bahnhofsmission, blickt in die Gesichter der Gäste.

Der Frühdienst ist still heute: alle Besucher schweigen mit gesenktem Blick. Und so schweigt auch er, lächelt, wenn jemand seinen Blick sucht, bereit für ein Gespräch, wozu auch immer. Heute sofort nach dem Aufschließen hat er mit einem Stammgast Wohnungsanzeigen in der Lokalzeitung durchgeschaut, freut sich noch, "dass der endlich wieder sucht". "Was kann ich für Sie tun?", wird er fragen, wenn ein neuer Besucher hineinkommt. 

Jugendliche Obdachlose vorm Bahnhof

Immer mehr wohnunglose Jugendliche suchen Hilfe in der Bahnhofsmission

Die vielen Gesichter der Armut

Eine Frage, die hier alle stellen, weil sie am besten als Türöffner funktioniere und niemanden unter Druck setze, sich und seine Situation zu erklären, sagt Swetlana Berg. Sie arbeitet schon seit 16 Jahren für die Bahnhofsmission in Dortmund und leitet sie seit über neun Jahren. Dortmund ist eine Ruhrgebietsstadt, in der mehr als jeder Fünfte von Armut bedroht ist, weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens hat, und jedes dritte Kind von Hartz IV lebt, so eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung . Obdachlos gemeldet sind nach Angaben der Stadt etwa 400 Menschen. Armut ist das bestimmende Thema der Bahnhofsmission – neben der Betreuung alleinreisender Kinder, Umsteige- und Begleithilfe für Reisende.

Und diese Armut zeigt immer wieder ein anderes Gesicht. Derzeit ist es das Jugendlichen und junge Volljährigen, die auf der Straße oder mal hier, mal da wohnen. Viele waren bis zum Alter von 18 Jahren in Jugendhilfe-Einrichtungen, "kommen nun in den eigenen Wohnungen aber nicht zurecht", beobachtet Swetlana Berg. Und es finden deutlich mehr über 65-Jährige mit sozialen Problemen den Weg in die Mission. Rund 22.500 Menschen suchten 2016 Hilfe im Bahnhof, etwa 8.000 weniger als vor zehn Jahren. 

Portrait

Swetlana Berg, Leiterin der Bahnhofsmission Dortmund

Erste Anlaufstelle Bahnhofsmission

Dass es weniger Armut in der Stadt gibt, glaubt Swetlana Berg nicht, aber mehr Hilfsangebote als früher. Doch davon wissen nicht alle Menschen. Zudem müssen sie die Unterstützung auch annehmen. "Und das ist viel schwerer, als es sich anhört", sagt Berg. "Was kann ich für sie tun?" fragte sie bis vor kurzem täglich eine Frau, die immer morgens kam. "Kaffee" sagte sie nur und schaute auf die Wand. "Erst beim 15. Mal sah sie mich an und lächelte zurück", erzählt Berg. "Das war ihre Morgenpause hier bei uns, danach ging sie wieder anschaffen."

Schließlich berichtete die Frau, dass sie die Arbeit nicht freiwillig macht, an ihrem Leben furchtbar leidet. "Hätten wir sie am ersten Tag ausgefragt, wäre sie wohl einfach nicht mehr gekommen", glaubt Berg. "Sie hat sich hier ja eigentlich nur ausruhen wollen, sie wäre auch nicht in einer Beratungsstelle, zum Sozialamt oder gar zur Polizei gegangen." So wie viele andere Besucher auch. Die Schwelle der Bahnhofsmission liegt niedriger als die einer Beratungsstelle. So konnte Swetlana Berg irgendwann fragen: "Wollen Sie Hilfe, um aus der Prostitution auszusteigen?" und Kontakt zur Mitternachtsmission herstellen.

Haupteingang Bahnhof

Sehnsuchtsort Bahnhof - er zieht Menschen aller sozialen Schichten an

 

Geschichten voller Trauer und Hoffnung

Die Leiterin der Bahnhofsmission kann ganze Bücher mit Lebensgeschichten füllen. "Die Menschen sind ehrlich zu uns, weil sie hier anonym sind und wir jeden so akzeptieren, wie er gerade ist – mit allen Nöten und Problemen", betont sie. Einige Geschichten berührten die gelernte Kinderkrankenschwester besonders. Etwa die eines Mannes, der "ganz offensichtlich auf der Straße schlief, körperlich verwahrloste und apathisch wirkte". Über sein Leben wollte auch er zunächst nicht sprechen. Schließlich erzählte er sie aber doch, seine Lebensgeschichte: der Weg eines Mitte 40-Jährigen mit gutem Job aus dem reichen Dortmunder Süden, Haus und glücklicher Ehe, der ihn ins Bahnhofsleben führte.

13 Menschen aus seinem Umfeld starben innerhalb eines Jahres, zuletzt seine Frau bei einem Autounfall. Danach wurde er apathisch, bezahlte keine Rechnungen, ging nicht mehr zu Arbeit. "Er hat den Mut verloren, alles wurde sinnlos." Aber schließlich fand er den Mut zur Veränderung, durch die vorsichtigen Gespräche. Er fragte Berg nach Wohnberatung – und kam als stolzer Mieter einer Wohnung zu Besuch in die Bahnhofsmission, nach einem halben Jahr berichtete er über seinen neuen Arbeitsvertrag, und "dann schob er irgendwann eine Dame mit Rollstuhl zu uns herein und sagte: Hier stelle ich euch meine Freundin vor."

Gruppenbild

Unterwegs, um Hilfe anzubieten: Bahnhofsmissionen sind zu zentralen Anlaufstellen für Arme geworden. 

Täglicher Rundgang durch den Bahnhof

Gegen 13 Uhr schließt Hassan Abukassem schließlich das Gebäude neben dem Bahnhofsmanagement. Seit einer Stunde waren keine Gäste mehr da, "das ist jeden Tag anders". Zusammen mit den anderen beiden ehrenamtlichen Helfern Christine Waßmann und Horst Himmert dreht er dann eine Runde durch den Bahnhof. Sie halten Ausschau nach Menschen, die Hilfe brauchen könnten – beim Treppensteigen, bei der Orientierung, bei "egal was".

"Wir wollen so auch zeigen, dass es hier in Dortmund eine Bahnhofsmission gibt und dass wir ansprechbar sind." In der Bahnhofsmitte bleiben die Drei stehen und warten. "Ich brauche Wasser, macht ihr gleich wieder auf?", fragt ein Mann in zerschlissener Kleidung. "In zehn Minuten", verspricht Himmert. Nach 14 Uhr kommen neue Ehrenamtliche – um wieder aufs Neue zu fragen: "Womit kann ich Ihnen helfen?"

Einen Einblick in ihre Arbeit gibt die Dortmunder Bahnhofsmission am bundesweiten "Tag der Bahnhofsmission", der am Samstag, 22. April, zwischen 10 und 17 Uhr stattfindet.

Text und Fotos: Mirjam Bunjes

Ihr/e Ansprechpartner/in
Karen Sommer-Loeffen
Referent/in
Geschäftsfeld Krankenhaus und Gesundheit