125 Jahre Bahnhofsmission
Von Bielefeld aus mit der Regionalbahn nach Ehlenbruch. Endhaltestelle. Dann in den Schienenersatzverkehr bis nach Lage im Kreis Lippe. Die Kleinstadt in Ostwestfalen-Lippe ist derzeit schwer zu erreichen – sehr zum Verdruss von Jovanna Rinsche und Stefanie Ternes von der Bahnhofsmission Lippe. Die seit April 2019 andauernden Bauarbeiten haben ihre Arbeit schwerer gemacht. Denn die beiden Frauen setzen sich für die Mobilität der Menschen in der Region ein. Lage hat nur rund 35.000 Einwohner, aber der Bahnhof ist ein wichtiger Knotenpunkt für Reisende im Kreis Lippe.
Mitte Oktober sollen die Bauarbeiten vorüber sein und dann, so hofft Rinsche, kommen wieder mehr Gäste zur Einrichtung am Gleis 1. "Es ist wesentlich ruhiger geworden, seit wir den Schienenersatzverkehr haben", sagt die 28-jährige Leiterin der Bahnhofsmission. Sie hat vor zwei Jahren angefangen und möchte gemeinsam mit ihrer Kollegin Stefanie Ternes Menschen trotz der ländlichen Struktur in die Züge bringen.
Die Bahnhofsmission als Begegnungsstätte: Stefanie Ternes (links) und Jovanna Rinsche wollen regelmäßige Veranstaltungen in der Bahnhofsmission Lippe organisieren.
Nervosität vor der Zugfahrt
Der Kreis Lippe ist nicht mehr jung – 22 Prozent der Einwohner sind über 65 Jahre alt. Das hohe Durchschnittsalter und die an manchen Orten schwierige Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr sind zusätzliche Herausforderungen für Stefanie Ternes und Jovanna Rinsche. "Viele ältere Menschen sind nicht mehr mobil und haben Schwierigkeiten, zu den Bahnhöfen zu kommen", erklärt Rinsche. Zudem kämen viele Senioren nicht zurecht mit den klein gedruckten Fahrplänen, dem komplizierten Ticketsystem und den Automaten der Bahn.
"Schalter mit Bahnangestellten, die dem Kunden die Tickets verkaufen, gibt es hier in Lippe nur noch wenige", sagt Ternes. Wer sein ganzes Leben lang Auto gefahren sei und dann auf den Zug umsteigen müsse, der reagiere erst einmal nervös.
Reiserouten zusammenstellen
Anett kennt diese Nervosität. Die 52-Jährige ist sehbehindert und kann nur verschwommen sehen. Ohne Hilfe kann sie keine Freunde besuchen und nicht zum Einkaufen nach Bielefeld fahren. Wenn sie in den Urlaub möchte, muss das gut geplant werden. Bei ihrem vergangenen Urlaub in Bremerhaven hat das die Bahnhofsmission Lippe übernommen.
"Sie hat mir meine Reiseroute zusammengestellt, mit mir die Tickets gebucht und mich bis nach Herford begleitet. Dort wartete dann schon ein anderer Mitarbeiter der Bahnhofsmission auf mich", erzählt Anett begeistert. "Das hat alles problemlos geklappt und ich musste mir gar keine Sorgen machen – ich konnte einfach meinen Urlaub genießen."
Die Bahnhofsmission Lippe gibt es seit 2016, sie ist eine der jüngeren sozialen Hilfen am Bahnsteig in Deutschland. In Lippe hat sich das Angebot der Reisebegleitung und Hilfe noch nicht bei allen herumgesprochen. "Es könnte mehr Nachfrage geben", sagt die ausgebildete Sozialarbeiterin Rinsche. Um die Bahnhofsmission Lippe bekannter zu machen, plant sie regelmäßige Veranstaltungen. "Die Räume sollen zu Begegnungsstätten werden. Es soll regelmäßig Quiz-Abende oder kleine Konzerte geben", erklärt die 28-Jährige ihre Pläne fürs neue Jahr.
Schauen, wer Hilfe braucht: Frank Budde (links) und Thomas Samse unterstützen Reisende.
Mobilität nicht nur auf der Schiene
Jovanna Rinsche und Stefanie Ternes ist es wichtig, nicht nur für ihre Gäste da zu sein und ihnen Mobilität zu ermöglichen, sondern auch ihre Mitarbeitenden zu fördern und zu unterstützen. Neun Menschen arbeiten, finanziert durch Maßnahmen des Jobcenters, bei der Bahnhofsmission Lippe – zum Beispiel im Rahmen von sogenannten Ein-Euro-Jobs. "Wir möchten, dass unsere Mitarbeitenden auch mal rauskommen. Viele sind aufgeregt, wenn sie als Begleitservice einen Reisenden nach Bielefeld bringen können", sagt Rinsche. Es geht Stefanie Ternes und Jovanna Rinsche aber vor allem um die "Mobilität" in den Lebensläufen der Menschen. Die beiden Frauen wollen ihren Mitarbeitenden den Mut geben, an sich zu glauben und etwas zu verändern.
Bei der Bahnhofsmission Lippe engagieren sich Menschen, die seit Jahren in der Arbeitslosigkeit festhängen. "Einige unserer heutigen Mitarbeitenden waren sehr niedergeschlagen, als sie sich bei uns vorgestellt haben. Sie haben sich das nicht zugetraut, hier jeden Tag mitzuhelfen. Ihr Selbstbewusstsein war nach so langer Arbeitslosigkeit am Boden", erzählt die 46 Jahre alte Ternes. Heute seien sie wichtige Stützen und gingen ganz selbstverständlich und offen auf die Menschen am Bahnhof zu, um ihre Unterstützung anzubieten. "Einige kennen den gesamten Fahrplan auswendig", sagt Rinsche beeindruckt.
Koffer tragen: Frank Budde hilft einer älteren Dame, ihr Gepäck zu tragen.
Frust aber auch Dank von den Gästen
Die Mitarbeitenden arbeiten in Früh- und Spätschichten. Die Bahnhofsmission ist von 8 bis 18 Uhr von montags bis freitags geöffnet. Zwei Mitarbeitende sind an den Gleisen unterwegs und helfen, zwei sind für die Gäste im Aufenthaltsraum da. Geht es nach Leiterin Jovanna Rinsche, sollte die Einrichtung für Reisende und Besucher auch am Wochenende öffnen. Deshalb sucht sie derzeit nach Ehrenamtlichen, die sich samstags oder sonntags engagieren möchten.
Am Gleis 2 fährt der Zug in Richtung Detmold ein. Thomas Samse und Frank Budde stehen bereit, schauen sich aufmerksam nach Fahrgästen mit schwerem Gepäck um und helfen den Reisenden, ihre Koffer die Treppen hinunter zu tragen. Viele sind überrascht und bedanken sich für die Hilfe.
Nach einigen Minuten schließen sich die Türen, der Zug macht sich zum Abfahren bereit. Da kommt eine Frau Mitte 40 angerannt. Frank Budde hat sie bemerkt und winkt dem Zugfahrer zu. Es nützt nichts, die Bahn fährt los − ohne die Frau. Sie ist sauer und sagt zu Budde: "Beim nächsten Mal winken Sie nicht nur, sondern halten die Tür auf."
Wachsen und sich entwickeln
Als Mitarbeitender in der Bahnhofsmission bekomme man viel Frust ab von den Gästen – sei es der Ärger über einen verpassten Zug oder der Streit zwischen einzelnen Gästen, sagt Stefanie Ternes. Das sei nicht für jeden etwas. "Manche unterschätzen die psychische Belastung."
Einmal pro Woche haben die Mitarbeitenden eine Teamsitzung und sprechen über die schönen und die belastenden Erlebnisse der Woche. "Es ist wichtig, dass wir uns selbst hinterfragen und dazulernen", meint Ternes. Es sei immer wieder schön zu sehen, wie die Mitarbeitenden bei der Bahnhofsmission über sich hinauswüchsen. "Einige unserer ehemaligen Mitarbeitenden haben es geschafft: Sie haben eine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt gefunden", erzählt Rinsche sichtlich stolz.
Text, Fotos und Videos: Ann-Kristin Herbst
Ehrenamt / Freiwilliges Engagement
Bahnhofsmission Lippe
Die Bahnhofsmission Lippe hat ihren Sitz am Gleis 1 des Bahnhofs Lage. Bis zu 40 Menschen besuchen die Einrichtung wöchentlich. "Auch dank unseres kostenlosen WLANs haben wir einen bunten Mix an Gästen", sagt Stefanie Ternes. Einmal sei ein Zug ausgefallen und in der Bahnhofsmission reihten sich "Anzugträger" neben Stammgästen. Die Einrichtung ist offen für alle zwischen 8 und 18 Uhr, montags bis freitags. Jovanna Rinsche möchte die Öffnungszeiten gerne auf das Wochenende erweitern. Dafür sucht sie Ehrenamtliche. Interessierte können sich per E-Mail unter lippe@bahnhofsmission.de melden.