26. Juni 2018

Diakoniekampagne Unerhört

Zuhören statt verurteilen

Mit ihrer Kampagne "#Unerhört" will die Diakonie Menschen sichtbar und unüberhörbar machen, die in unserer Gesellschaft oft keine Stimme haben. Der regionale Auftakt der Aktion fand jetzt im Ruhrgebiet statt. Diakoniepräsident Ulrich Lilie besuchte das Diakonische Werk im Kirchenkreis Recklinghausen, um hier mit Obdachlosen zu sprechen. Ihre Geschichten waren auch Thema in einem Festgottesdienst.

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Diakoniepräsident Ulrich Lilie (2.v.l.) im Gespräch mit Wohnungslosen aus Herten.

"Unerhört! Diese Obdachlosen." "Unerhört! Diese Flüchtlinge." Die Botschaften der neuen Imagekampagne der Diakonie sind schrill und doppeldeutig. Sie zielen auf #zuhören. "Denn", so betonte Diakoniepräsident Ulrich Lilie bei seinem Besuch im Ruhrgebiet, "das Empörungssystem bringt niemanden weiter." Er nahm sich Zeit für ein Gespräch mit Wohnungslosen im sogenannten "Diakonie-Bunker" in Herten. Dort sitzen die örtlichen Beratungsdienste des Diakonischen Werkes im Kirchenkreis Recklinghausen.

Es geht darum, die Lebensgeschichten von Menschen in Not- und Krisensituationen wahrzunehmen und in den politischen Diskurs einzubringen. Zum Beispiel die von Michael K. Der 47-jährige lebt in der städtischen Notunterkunft. Mit Alkohol hat er sein gutes bürgerliches Leben zerstört. Der gelernte Industriekaufmann hat seine Arbeit, seine Familie und sich selbst verloren. Vorstellungen von der Zukunft, so berichtet er, habe er eigentlich nicht. Doch manchmal denkt er auch, er könnte es schaffen.

Die Unerhört-Kampagne der Diakonie will wachrütteln, für eine offene und vielfältige Demokratie werben und in Foren in ganz Deutschland Gespräche und Begegnungen in einer Gesellschaft möglich machen, in der sich Arm und Reich räumlich und persönlich kaum noch begegnen.

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Einst Motor, heute Schlusslicht der Bundesrepublik: Herten gehört zu den ärmsten Kommunen Deutschlands, wie Bürgermeister Fred Toplak (links) erklärte.

Gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen

Herten war einst einer der führenden Bergbaustandorte Deutschlands. "100 Jahre waren wir der Motor der Republik", erläuterte Bürgermeister Fred Toplak, "seit 20 Jahren tun wir uns schwer." Heute zählt Herten zu den ärmsten Kommunen Deutschlands. Von Düsseldorf und Berlin fühle man sich nicht gehört. Das Gemeindefinanzierungsgesetz müsse geändert werden, forderte Toplak.

"Ungleiche Lebensverhältnisse beschädigen das Gemeinwesen", bestätigte Ulrich Lilie in einer Diskussionsrunde mit Verantwortlichen aus Politik, Kirche und Diakonie. "Wir brauchen ein Bündnis für gleichwertige Lebensverhältnisse." Ein Dialog zwischen Kirche, Diakonie und Stadtgesellschaft müsse initiiert werden, allerdings nicht als Dialog am Schreibtisch. Mit den Repräsentanten der Stadt waren sich die Vertreter der Diakonie darin einig, dass die ungleiche finanzielle Ausstattung der Kommunen dazu beiträgt, Menschen zu isolieren und auszugrenzen.

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Das Sozialgesetzbuch ist oft weit entfernt von der Lebenswirklichkeit der Menschen - darin waren sich die kirchlichen und kommunalen Sozialexperten einig.

Maßstab Lebensgeschichte

Die kirchlichen und die kommunalen Sozialexperten kamen in einem weiteren kritischen Punkt zum Konsens: Wer die Lebensgeschichten von Menschen kennenlernt, die "ganz anders leben", bekommt oft einen anderen Blick auf Programme und Projekte, die meist gut gemeint, aber nicht gut gemacht sind.

Hilfemaßnahmen sind nicht nur oft zu bürokratisch, sie sind zeitlich zu kurz getaktet. Betreuungsschlüssel von 1 zu 100 machen keinerlei soziale Teilhabe möglich. Das Bild des Langzeitarbeitslosen, das die Paragrafen des Sozialgesetzbuches prägt, sei – so die diakonische Erfahrung – weit entfernt vom tatsächlichen Bedarf von Menschen, die oft sechs Jahre und länger keine existenzsichernde Beschäftigung finden. Hier gelte es auch, nicht nur den Einzelnen in den Blick zu nehmen, sondern den Bedarf ganzer Familien.

Politiker, so erlebt es Christian Heine-Göttelmann, neigten dazu, ihre eigene Biografie und ihre speziellen Erlebnisse zum Maßstab ihres sozialpolitischen Handelns zu machen. Der Vorstand der Diakonie RWL, der zugleich Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen ist, baut darauf, dass die Lebensgeschichten benachteiligter Menschen konstruktiv in den Dialog von Zivilgesellschaft und Politik eingebracht werden. "Es geht immer darum, die individuelle, spezifische Situation wahrzunehmen", betonte er. Gießkannen-Programme mit politischen Großzielen und pauschalen Maßnahmen seien in der Regel nicht zielgenau genug.

Mann vorm Altar mit Weintrauben und Brot

Ein reich gedeckter Tisch für alle - Diakoniepfarrer Dietmar Kehlbreier leitete den Festgottesdienst.

Unerhörte Geschichten brauchen Orte

Warum ist das Diakonische Werk im Kirchenkreis Recklinghausen früh und aktiv bei der Diakonie-Kampagne dabei? Hierzu hatte Diakonie-Geschäftsführer Dietmar Kehlbreier eine klare Antwort: "Unerhörte Geschichten brauchen ihre Orte." Die Diakonie biete solche Orte, auch solche, an denen nicht sofort alles auf Wirksamkeit geprüft werde und man mit langem Atem Menschen Hilfen anbieten könne. Kehlbreier hob den "prophetischen und anwaltschaftlichen" Charakter der Imagekampagne hervor.

Der Unerhört-Diakonietag in Recklinghausen fand seinen Abschluss in einem Gottesdienst in der Christuskirche mitten in der Recklinghäuser Altstadt. Unter Leitung von Superintendentin Katrin Göckenjan und Diakoniepfarrer Dietmar Kehlbreier feierten Mitarbeitende, Bewohner, Klienten, Ratsuchende und Gemeinde miteinander. "Unerhörte" Geschichten von Obdachlosen wurden vorgetragen und der Barmherzigkeit Gottes, der Fürbitte und dem diakonischen Handeln anvertraut.

Plakatwand

Bis 2020 will die Diakonie mit Plakaten für eine offene, mitmenschliche Gesellschaft werben. 

Politische Markenkampagne Unerhört

Noch bis zum Jahr 2020 will die Diakonie mit pointierten "Headlines" auf violetten Plakaten für eine offene, mitmenschliche Gesellschaft Flagge zeigen. Die Kampagne wendet sich den "Unerhörten" der Gesellschaft zu und persifliert zugleich die Skandalisierungswut der heutigen Mediengesellschaft.

Zuhören ist angesagt – als Ausgangspunkt für einen Diskurs, der die Anliegen von Notleidenden zur Sprache bringt und die Ursachen von Armut und Benachteiligung gegenüber Politik und Öffentlichkeit ins Bewusstsein rückt.

Wer sich beteiligen möchte: Informationen und Materialien zur Unerhört-Kampagne gibt es hier.

Text: Reinhard van Spankeren, Fotos: Diakonie Deutschland, Diakonisches Werk im Kirchenkreis Recklinghausen

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