Armutsdebatte
Noch ein Buch über Armut – warum? Ist nicht schon alles gesagt, erforscht, erzählt, beschrieben, analysiert auf den Punkt gebracht und diskutiert? Es gibt den Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht, es gibt die Sozialberichterstattung von Ländern und Kommunen, es gibt immer wieder Studien der Bertelsmann-Stiftung, es gibt die Fachbücher von stark engagierten Autoren wie Christoph Butterwegge oder Ulrich Schneider, dazu Gegenpositionen wie die von Georg Cremer, es gibt die globalen Datenatlanten internationaler Organisationen zu weltweiter Ungleichheit wie auch Mikrostudien zu Stadtteilen, die zu Zonen des Elends herabgesunken sind. Und jetzt noch einmal über 500 Seiten mit 42 Beiträgen. Das Werk verknüpft theoretische Grundlagen, empirische Befunde und aktuelle Diskurse.
Vielfältige Zugänge und Perspektiven
Die Lektüre des Sammelbandes lohnt, weil kaum ein anderes der vielen auf dem Markt befindlichen Sach- und Handbücher so viele unterschiedliche Zugänge und Perspektiven bietet. Arme Menschen kommen selbst zu Wort in eindringlichen Porträts. Die Fragen der Sozialstaatsentwicklung in Deutschland werden auf dem Niveau der neuesten Forschung zur Sprache gebracht, etwa Kinderarmut und Altersarmut oder auch die Frage nach dem Geschlecht der Armut. Die europäische Dimension von Verarmung wird in den Blick genommen und mehrere Beiträge weiten den Blick durch die Darstellung globaler Entwicklungen und Zusammenhänge.
Innovative Fragestellungen
Überreichen des Armutsbuches an den rheinischen Präses Manfred Rekowski
(v.l.n.r.) Joachim Deterding, Präses Manfred Rekowski, Barbara Montag, Gerhard K. Schäfer (Foto: EKiR)
Barbara Montag, Joachim Deterding und Gerhard K. Schäfer als Herausgeberteam haben den Mut gehabt, die Praktiker kleinerer lokaler Projekte der Armutsbekämpfung vor Ort genauso zu Wort kommen zu lassen wie Autorinnen und Autoren, die eher theorieaffin die Abgründe der "Abstiegsgesellschaft" ausleuchten. Alte Ungleichheiten und neue Verwerfungen werden thematisiert.
Pluspunkt ist hier, dass Fragen aufgegriffen werden, die von der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung bisher eher zu wenig reflektiert wurden. So wird Armut auch im Zusammenhang von Scham und Angst gesehen, die Diskurse um Armut und Rechtspopulismus und um Flüchtlingspolitik und Armutsentwicklung werden sensibel aufgearbeitet, die Armutsmigration aus Südosteuropa wird beschrieben, dass Behinderung ein hohes Armutsrisiko mit sich bringt, wird anschaulich herausgearbeitet.
Lösung der sozialen Frage?
Wohnen – die wichtigste soziale Frage (Foto: Uwe Stoffels)
Wie lässt sich Armut am wirkungsvollsten bekämpfen oder gar aufheben? Durch die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens? Durch Überwindung des Kapitalismus? Durch mehr (kapitalistisches) Wirtschaftswachstum, das den weiteren Ausbau des traditionellen Sozialstaats ermöglicht? Durch eine Postwachstumsgesellschaft, die die Zwänge der imperialen Lebensweise aufhebt?
Durch die technischen Wunderwelten der Digitalisierung, die mit künstlicher Intelligenz die Beschränktheiten eines biologisch gebundenen menschlichen Lebens transzendiert? Bringt man die Kontroversen und Diskurse über Strategien der Armutsbekämpfung auf den Punkt, kommt man oft auf solche Ein-Punkt-Lösungen der Sozialen Frage unserer Tage.
Die meisten Autorinnen und Autoren dieses heterogenen Studienbandes neigen nicht zu solch eindimensionalen Antworten. Sie setzen in der Regel auf den gut protestantischen Vierklang von Bildung, Beratung, Beteiligung und Befähigung. Die harten ökonomischen und sozialen Facetten von Armut als Lebenslage geraten so vielleicht ein wenig in die Gefahr von Kulturalisierung und Ethisierung.
Deutlich gesagt: Arme Menschen brauchen schlicht mehr Geld, um ein Leben in Würde führen zu können. Insgesamt hätte man sich vorstellen können, dass alte und neue Streitfragen der Armutsforschung noch expliziter in Pro und Contra diskutiert worden wären.
Angst vor Verarmung
Das schillernde Phänomen Armut in so vielfältigen, neuen, beispielhaften, anschaulichen Zugriffen und Hinsichten auszuleuchten, ist das wesentliche Verdienst dieses meist gut lesbaren Buches. Dass Armut nicht nur die "Menschen mit Armutserfahrung" lähmt, hätte vielleicht nicht nur punktuell, sondern noch deutlicher entwickelt werden können. Denn in einem Deutschland, das so reich und für die Mehrheit so sozial abgesichert ist wie nie, bestimmen in erstaunlichem Maße die diffusen Ängste der Mittelschicht vor Verarmung die Gestaltung des politischen Raumes.
Für Interessierte und Engagierte
Die leitenden Geistlichen der rheinischen, der westfälischen und der lippischen Landeskirche und der Vorstand der Diakonie RWL haben ein Geleitwort beigesteuert, die Mehrheit der Autorinnen und Autoren lässt sich im Spektrum von theologischen Fakultäten und evangelischen (Fach)Hochschulen verorten und ein Bibelzitat bildet den Titel. Man kann nur hoffen, dass das Buch dadurch nicht in die "kirchliche Ecke" abgeschoben wird, sondern von Interessierten und Engagierten unterschiedlichster Provenienz zur Kenntnis genommen wird.
Auftrag Armutsbekämpfung
In der Frauenübernachtungsstelle der Diakonie Dortmund (Foto: Sabine Damaschke)
"Arme habt ihr immer bei euch" – das ist ein biblisch-realistischer Blick. Armut als solche und als Ganzes lässt sich in einer von Menschen gemachten Gesellschaft vermutlich nicht komplett abschaffen. Aber: So viel Armut in einer so reichen Gesellschaft ist schlicht überflüssig. Überflüssige Armut verletzt in besonderer Weise die Würde der Betroffenen. Armut, Ausgrenzung und sozialer Abstieg gefährden den sozialen Frieden.
In ihrem anwaltschaftlichen Appell und in ihrer pragmatischen Hilfe dürfen Kirche und Diakonie nicht nachlassen, armen Menschen beizustehen. Das mag gegenwärtig ähnlich unpopulär sein wie das Festhalten an einem Masterplan der Menschlichkeit in Sachen Flüchtlingspolitik. Es bleibt aber Kern des Auftrags. Analytisch sind nahezu alle Aspekte erschlossen. Jetzt bedarf es eines Masterplans für Armutsbekämpfung.
Text: Reinhard van Spankeren
Diakonische Identität
Hinweis:
Gerhard K. Schäfer / Barbara Montag / Joachim Deterding (Hg.): "Arme habt ihr immer bei euch" – Armut und soziale Ausgrenzung wahrnehmen, reduzieren, überwinden; mit einem Geleitwort von Annette Kurschus, Manfred Rekowski, Dietmar Arends, Christian Heine-Göttelmann, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2018, 30,00 Euro.